Vergangen und Vergessen? – Die Jugoslawienkriege und ihre psychischen Folgen

Von Alexandra Lange

Heute leben rund 1,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens in Deutschland. Viele leiden unter psychischen Erkrankungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen. Wie viele genau aber weiß niemand. Wir haben einen von ihnen getroffen.

Boris* ist 49 Jahre alt und lebt mit seiner Frau Sonja* und seinen beiden Kindern (Ivana* 11 Jahre und Bruno* 3 Jahre) in München-Giesing. Boris ist in Deutschland geboren, nichts an ihm lässt einen Migrationshintergrund vermuten. Er hat mittellange braune Haare, trägt ein graues T-Shirt, Jeans und Stoffturnschuhe. Seine unauffällige Kleidung schlackert etwas, er hat wohl in kurzer Zeit einiges an Gewicht verloren. Man schätzt ihn höchstens auf 40. Wir setzen uns zusammen, aber er kann nicht ruhig sitzen bleiben. Immer wieder springt er auf, läuft er nervös auf und ab wie ein Tiger im Käfig, piekst sich immer wieder mit einem Stöckchen in die Arme. Man merkt ihm sichtlich an: er steht unter immenser Anspannung.

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Die Folgen des Krieges sind im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien noch fast überall sichtbar. Doch die schlimmsten Folgen sind unsichtbar: sie sind in den Köpfen der Menschen. (Bild: Fotolia)

Im Zuge des Gastarbeiteranwerbeabkommens wanderten in den späten Sechziger- und frühen Siebziger-Jahren ca. 600.000 Jugoslawinnen und Jugoslawen in die BRD ein. Darunter auch Boris‘ Eltern, die 1966 aus Zagreb, Kroatien nach München kamen. Sie finden Arbeit bei Siemens in München. 1968 kommt Boris zur Welt. Geschwister folgen keine. Seine ersten beiden Lebensjahre verbringt er bei seiner Großmutter in Kroatien, dann holen seine Eltern ihn zu sich nach München. Er wächst in München-Sendling, einem typischen Arbeiterviertel auf. Seine Kindergarten- und Grundschulzeit verbringt er mehrheitlich unter anderen Gastarbeiterkindern. Ein bunter Mix aus Jungen und Mädchen aus Spanien, Italien, Jugoslawien und anderen. Da seine Noten sehr gut sind, kommt er als einziger seiner Klasse aufs Gymnasium. Dort ist er plötzlich der einzige Nicht-Deutsche. So besteht sein Freundeskreis bald hauptsächlich aus Deutschen. Die Urlaube verbringt die Familie meistens in der Heimat Kroatien. Boris hat dort eine weit verzweigte Verwandtschaft, seine Eltern besitzen sogar ein kleines Häuschen in der Nähe von Zagreb. Nach der fünften Klasse schicken seine Eltern ihn in eine Sommerschule nach England. Die anderen Gastschülerinnen und Gastschüler dort sind wesentlich älter als er. Boris beschreibt, dass er dort quasi ad hoc vom Kind zum Teenager wurde. Witzelnd erzählt er: „Ich bin als ABBA-Fan hingefahren und als Punk zurückgekehrt. Dann hat mich mein Vater statt zu ABBA eben zu The Who ins Konzert mitgenommen.“ Wir müssen lachen. Boris wird fortan aufbegehrend gegenüber seinen Eltern, eckt immer wieder an, es kommt häufig zum Streit. Seine schulischen Leistungen fallen ab, er kifft viel. Als Boris 13 Jahre alt ist, erkrankt seine Mutter an einer Depression und muss für mehrere Wochen in stationäre Behandlung. Als ich Boris frage, wie er das erlebt hat, zuckt er mit den Schultern. „Sie war halt mal weg und dann war sie wieder da, gesprochen wurde nicht darüber.“ Ansonsten hat er keine Erinnerung daran. Mit 19 Jahren, schmeißt er kurz vor dem Ziel das Abitur und geht lieber für ein paar Monate als Punk in die USA. Zurück in München schlägt er sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs durch, die ihn schließlich zum Film führen.

26. Juni 1991: Die Jugoslawische Volksarmee unter Slobodan Milošević beschießt den Flughafen von Ljubljana mit MiG-Jagdflugzeugen um die Unabhängigkeit Sloweniens zu verhindern. Der „Slowenien-Krieg“ dauert nur 10 Tage, Slowenien verteidigt seine Unabhängigkeit. Dennoch ist dieser Konflikt der Startschuss für eine Reihe grausamer kriegerischer Konflikte zwischen den verschiedenen Volksgruppen des durch den kommunistischen Diktator Tito künstlich zusammengehaltenen Staates. Jugoslawien zerfällt in einem Ausbruch von Gewalt. Jeder kämpft gegen jeden. Im Gedächtnis bleiben Vertreibung, Völkermord, Folter, Massenvergewaltigungen, Hunger, Armut, Massengräber, Massenflucht und: das Versagen Europas. Zwischen 1991 und 1995 sterben 150.000 Menschen, vor allem Zivilistinnen und Zivilisten, zwei Drittel davon in Bosnien. Zwei Millionen Menschen verlieren ihre Heimat. 350.000 Menschen suchen Asyl in Deutschland. 1998/99 folgen noch 150.000 asylsuchende Kosovo-Albanerinnen und -Albaner, die vor Miloševićs ethnischen Säuberungen fliehen.

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In den Sechziger- und Siebziger-Jahren emigrierten ca. 600.000 Jugoslawinnen und Jugoslawien als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Als Jugoslawien in den den Neunziger-Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg in seine Teilstaaten zerfällt, finden 400.000 Menschen in Deutschland Asyl. (Bild: Fotolia)

Als der Krieg ausbricht, Boris ist gerade 23, ist das der große Schock und die große Katastrophe. Er fährt während des Krieges immer wieder nach Zagreb. Zum einen will er vor Ort sein, zum anderen ist er auch dazu gezwungen. Er besaß zu der Zeit noch die kroatische Staatsbürgerschaft und der neue Staat verweigert ihm die Ausbürgerung. Somit fehlt ihm das entscheidende Dokument, das ein Erlöschen der kroatischen Staatsbürgerschaft beweist. Das hätte er nach damals geltendem Einbürgerungsrecht allerdings benötig, um die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. Die kroatische Armee stuft ihn automatisch als Reservist ein, er muss zu einem Art „Schnelltraining“ und er ist dazu gezwungen seinen Pass alle sechs Monate vor Ort in Kroatien zu verlängern. Ein perfider Trick, durch den sich die kroatische Armee die Möglichkeit sicherte, ihre im Ausland lebenden Männer im wehrfähigen Alter jederzeit einzuziehen zu können und an die Front zu schicken. Soweit kam es bei Boris zwar nie, trotzdem wird er Zeuge des Krieges. Die Frontlinie war weiter östlich, aber auch in Zagreb gehörten Kriegshandlungen wie Scharfschützenfeuer und Antipersonenminen zum Alltag. Zudem kämpften zahlreiche seiner Familienmitglieder aktiv an der Front. Die ständige Angst um die Familie, deren Sicherheit und die Zukunft des Heimatlandes, das alles muss sich furchtbar angefühlt haben. Man kann es als Außenstehende und Außenstehender nur erahnen. Boris hat zumindest insofern Glück, dass keiner seiner Familienangehörigen das Leben verlor.

Heute leben 1,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens in Deutschland, so der offizielle Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes. Die Gruppe ist sehr heterogen. Unter Ihnen sind Kroaten, Serben, Bosnier, Kosovaren, Montenegriner, Slowenen und Mazedonier. Sie sind Katholiken, Muslime und Orthodoxe. Frauen, Männer und Kinder. Ein Drittel lebt bereits in zweiter oder dritter Generation in Deutschland. Zwei Drittel besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. So sehr sie sich unterscheiden, eines haben sie alle gemeinsam: den Krieg in ihrer Heimat. Zusammen machen sie 2% der deutschen Gesamtbevölkerung aus und bilden nach Menschen mit Migrationshintergrund aus Russland und der ehemaligen Sowjetunion (3,7%), aus der Türkei (3,5%) und aus Polen (2,1%) die viertgrößte ethnische Minderheit in der Bundesrepublik.

Nach Ende des Krieges entscheidet sich Boris für die deutsche Staatsbürgerschaft. Er wird freiberuflicher Kameramann. Autodidaktisch, er hat sich alles selbst beigebracht. Die Arbeit beim Film ist ein Beruf, durch den er, von Engagement zu Engagement, in der ganzen Welt herumkommt. Er genießt diesen ungebundenen Lebensstil. Wenn er länger an einem Ort ist bekommt er Beklemmungen. Und, der Zufall will es so, führt ihn die Arbeit unter anderem auch nach New York City. Dort blickt er eines Morgens von seinem Apartment in Brooklyn aus auf die Skyline Manhattans. Es ist ein scheinbar normaler Tag. Dann beobachtet er, wie nacheinander zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers einschlagen und die Türme schließlich einstürzen. Jeder weiß es, es ist der 11. September 2001. „Ich war nah genug dran, dass ich mit freier Sicht alles sehen konnte, aber gerade weit genug weg, dass mir nichts passieren konnte.“ beschreibt Boris. Er ruft seine Freundin in Kroatien an, sie führen eine Fernbeziehung, um ihr zu sagen, dass er in Sicherheit sei. „Bei ihr war das zu dem Zeitpunkt aber noch gar nicht angekommen.“, sagt er. In New York City herrschte an diesem Tag allerdings längst gefühlter Kriegszustand. Boris’ Freundin Sonja ist Kroatin. Die beiden hatten sich bei Dreharbeiten in Kroatien kennen gelernt, Sonja ist Maskenbildnerin. Als Boris 38 ist, heiraten die beiden. Er kauft eine Eigentumswohnung in München und Sonja zieht aus Kroatien zu ihm nach Deutschland. Bald ist das erste Kind unterwegs. Boris wird nach langer Zeit so etwas wie „sesshaft“. Er arbeitet weiter beim Film und nebenberuflich als DJ in einem Münchner Nachtclub. Dort legt er mit Freunden Balkan-Musik auf. Eines Abends, seine Frau ist gerade im 7. Monat schwanger, sein Auftritt ist gerade zu Ende, kauft er sich im Club ein Sandwich. Er beißt hinein, aber er schafft es nicht zu schlucken. Er wirft das Sandwich weg und geht nach Hause, schläft. Beim Frühstück das gleiche. Drei Wochen lang hat er diese „Schluckstörung“, kann nur Flüssigkeit über einen Strohhalm zu sich nehmen und nichts essen. Dann kann er plötzlich nicht mehr schlafen. Tagsüber ist er so unruhig, dass er den ganzen Tag ziellos in der Stadt herum rennt, völlig erschöpft, doch unter einer so quälender Getriebenheit, die ihn nicht eine Minute am Tag zur Ruhe kommen lässt. Ihn quälen tiefe Selbstzweifel, panische Zukunftsängste, Existenzängste und die totale Verzweiflung. Denn an Arbeiten und Geldverdienen ist in diesem Zustand nicht mehr zu denken. Der Gedanke an seine auf ihn zukommenden Aufgaben als Vater überfordert ihn. Als das Kind zur Welt kommt geht Sonja mit der neugeborenen Tochter nach Zagreb zu ihrer Schwester, da Boris nicht mehr in der Lage ist, Frau und Kind zu unterstützen. Er fühlt sich nur noch als Belastung, wertlos, überflüssig und schämt sich für sein Versagen. Unerträglichen Qualen, die nicht aufhören wollen. Er ist so hoffnungslos, dass er immer wieder daran denkt sich das Leben zu nehmen. Er kann sich zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, dass er jemals wieder der Alte wird. Ein typisches Symptom. Denn Boris leidet unter einer schweren Ausprägung der „agitierten Depression“. Diese Form der Depression hat die typische Symptomatik einer Depression was die Stimmung betrifft. Bei einer „normalen Depression“ leiden Betroffene allerdings meist unter extremer Antriebslosigkeit und können oft das Bett kaum mehr verlassen. Die „agitierte Depression“ zeichnet sich im Gegensatz dazu nicht durch Verlangsamung der Motorik aus, sondern durch eine ständige physische Getriebenheit. Boris versucht es mit Antidepressiva und anderen Psychopharmaka, die ihm beim Schlafen helfen sollen. Nichts schlägt an. Er begibt sich in stationäre Behandlung in eine psychoanalytisch-psychotherapeutische Klinik, doch auch die Psychotherapie schlägt nicht an. Er kann sich zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, wie ihm eine Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit helfen soll. Er will doch einfach „nur“ wieder schlafen. Er wird als „therapieresistent“ entlassen. Fortan kämpft sich Boris weiter alleine durch die Tage. Aber es lohnt sich. Nach acht Monaten beginnt sich die Symptomatik, fast so schnell wie sie gekommen ist, wieder zu bessern. Die „depressive Episode“ geht vorüber. Sonja kommt mit ihrer gemeinsamen Tochter wieder zurück. Die Engagements beim Film sind zwar zunächst durch seinen „Ausfall“ zurückgegangen, dennoch kann er wieder anfangen zu arbeiten und sich nebenher durch Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Doch wenige Monate später steht er wieder in Kaschmir um einen Dokumentarfilm zu drehen. Dann setzt er die letzten Medikamente ab. Er findet in sein altes Leben zurück und fühlt sich endlich wieder „normal“. Der Zustand, nachdem sich alle Menschen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden, mehr als alles andere sehnen. Er kann mit dem Kapitel abschließen. Es geht ihm gut.

10 Jahre später: Boris steht mit beiden Beinen im Leben. Er hat vor drei Jahren noch einen Sohn bekommen. Er arbeitet viel, hat u.a. ein festes Engagement beim Fernsehen. 12- bis 14-Stunden Tage sind die Regel. Daneben reist zu Drehs nach Slowenien und Portugal. Sein Hobby, die Musik, hat er längst wieder aufgenommen. Er spielt in einer Balkan-Band, mit der er hin und wieder in Münchner Clubs auftritt. Doch eines Tages, Boris kommt von einem Konzert nach Hause und legt sich ins Bett, kann er plötzlich wieder nicht mehr schlafen. Von einem Tag auf den anderen findet er sich exakt in demselben Zustand wieder, wie vor 10 Jahren. „Mich hat’s wieder erwischt.“, sagt er, und kann es zunächst kaum fassen. Wieder wälzt er sich nachts in seinem Bett hin und her und macht kein Auge zu. Tagsüber läuft er durch die Stadt oder fährt Fahrrad. Ziellos. Seine Tochter entfremdet sich von ihm. Sie versteht nicht warum ihr Papa plötzlich so anderes ist. Seine Ehe leidet. An Arbeit ist nicht zu denken. Er muss sich krank schreiben lassen, geht zum Psychiater. Der verschreibt ihm Antidepressiva. Zwei Mal pro Woche sucht er eine Psychotherapeutin auf. Er versucht es auch mit Chinesischer Medizin und Akupunktur. Jedes Mittel wäre ihm Recht. Bisher leider alles mit mäßigem Erfolg. Und wieder hat er die Angst, dass dieser Zustand nie wieder vorbei gehen wird. Das perfideste Symptom der Depression. Denn meistens geht eine Episode vorbei. Bei einer sog. „rezidivierenden Depression“ kommen im Laufe des Lebens zwar mehrere Episoden, bilden sich aber in aller Regel nach gewisser Zeit von alleine wieder zurück, selbst wenn Medikamente nicht anschlagen. Das kann Boris nicht so recht glauben. So schwankt er jetzt täglich zwischen Suizidgedanken und dem Kampfgeist, den Zustand auszuhalten, in der tiefen Hoffnung dass die Qualen auch diesmal wieder ein Ende haben werden. „Es ist wie Fegefeuer!“ beschreibt er.

Im Gespräch mit Boris bemerkt man: er ist hochgebildet, intelligent und eloquent. Man erkennt in ihm einen kosmopolitischen Intellektuellen, nicht zuletzt wegen der vielen Anglizismen die er verwendet. Sein unvergleichlich schwarz-angehauchter Humor und sein etwas spitzbübisches Grinsen stecken sofort an. Bis sich seine Mimik wieder verkrampft. Boris gehört zur zweiten Einwanderergeneration, da er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Er ist perfekt integriert. Man nimmt ihn als Deutschen war. Aber gleichzeitig ist Boris auch Kroate. Mit seiner Familie spricht er kroatisch, seine Kinder sind katholisch getauft. Weniger aus Religiosität als aus Tradition der kroatischen Identität. Als ich Boris frage, ob er denn seine Heimat mehr in Deutschland oder in Kroatien sieht, antwortet er. „Meine Heimat ist sozusagen überall. Andererseits auch nirgendwo. Aber von der Attitude her würde ich sagen: Brooklyn!“

Bei Menschen mit Migrationshintergrund besteht im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken. Dies belegen zahlreiche empirisch-wissenschaftliche Studien auf die u.a. die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) in einem Positionspapier von 2012 hingewiesen hat. Migrantinnen und Migranten seien deshalb häufiger arbeitsunfähig oder in Frührente. Das Erkrankungsrisiko steige bei bestimmten Risikofaktoren wie Vertreibung, Isolation, Asylverfahren, Armut, Heimweh, Sprachproblemen, Arbeitslosigkeit, schlechter Bildung und Wohnverhältnissen in sozialen Brennpunkten. Frauen mit Migrationshintergrund sind nach Einschätzung der Mediziner besonders gefährdet. Zusätzlich zu diesen empirischen Forschungsergebnissen hat die sogenannte „epigenetische Forschung“ unterdessen bewiesen, dass Traumata sogar das Erbgut des Betroffenen verändern können und so auch genetisch vererbbar sind. Zu der Tatsache, dass Kinder starkem psychischem Stress ausgesetzt sind, wenn ein Elternteil psychisch erkrankt, kommt also noch eine rein genetische Komponente. Sucht man aber nach Untersuchungen zur psychischen Gesundheit bestimmter Migrantengruppen, insbesondere der aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, so lassen sich jedoch kaum Daten finden. Die letzte wissenschaftliche Publikation die sich recherchieren lässt, stammt noch aus dem Jahr 2008, erstellt vom Zentrum für Psychiatrie Reichenau. Hier wurde allerdings nur die Prävalenz psychischer Erkrankungen von Flüchtlingen mit Bezug auf deren Rückkehrvorstellungen untersucht, und dies in einer sehr kleinen Stichprobe. Flüchtlinge mit akuten Erkrankungen dürfen nämlich nach dem Asylrecht nicht abgeschoben werden.

Die Abwesenheit von Daten und Studien ist ein Problem, das Dr. med. Götz Berberich, Chefarzt der Klinik Windach, einer der renommiertesten Fachkliniken für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Deutschland, bestätigt: „Wir fragen in unserer Basisdokumentation nur Staatsbürgerschaft und sprachliche Barrieren ab. Um den Migrationshintergrund aber zu erheben – dazu gibt es ja genaue Definitionen, ab wann man davon spricht – bräuchte man mehr Items. Tatsächlich sind wir seit einem Jahr dabei, in den entsprechenden Gremien für eine Erweiterung der Basisdokumentationsfragen zu werben und wollen das in absehbarer Zeit einführen. Aber Status quo ist, dass wir keine genauen Daten über Migrationshintergrund liefern können – und in Bayern übrigens fast niemand!“ Auf seine persönliche Einschätzung, ob sie mehr Menschen mit Migrationshintergrund behandeln, antwortet Berberich: „Gefühlt: ja! Die erste Generation, also die, die emigriert, geht aus kulturellen Gründen selten zu Psychotherapeuten. Die zweite steht zwischen der Kultur des Herkunfts- und des Gastlandes, das macht ganz viel Probleme, und kann dafür besser Deutsch. Die kommen also viel häufiger. Die Enkelgeneration ist weitgehend akkulturiert, zumindest diejenigen, die wir sehen. Das dürfte dann der übrigen Bevölkerung entsprechen. Da die zweite und dritte Generation nun vermehrt in ein „psychotherapiefähiges“ Alter kommt, sehen wir sie häufiger.“ Auf die Frage nach den häufigsten Diagnosen beschreibt er: „Sie kommen mit allen möglichen Krankheiten, aber doch häufig  mit Depressionen und chronischen Schmerzen. Eine andere Klientel sind die Kriegstraumatisierten, die auch schon in der ersten Generation kommen, davon sahen wir in der Tat in den letzten Jahren viele aus dem Balkan. Diese leiden hauptsächlich unter posttraumatischen Belastungsstörungen, aber auch Depressionen und chronischen Schmerzen.“

Fakt ist also: während die medizinische Forschung sich auf die neu angekommenen Flüchtlinge des Flüchtlingsstroms von 2015 und 2016 mit überwiegend syrischen, afghanischen und irakischen Flüchtlingen konzentriert, sind die Kliniken mit Patientinnen und Patienten aus früheren Einwanderungsströmen, insbesondere dem aus dem ehemaligen Jugoslawien konfrontiert. Diese Menschen sind allerdings längst aus unserem Fokus gerückt. Nach den Jugoslawien-Kriegen folgte bald der 11. September – Afghanistan – Irak- und nun eben Syrien. Es wird hochtourig an Programmen und Leitlinien zur psychosomatischen Versorgung der gerade angekommenen Flüchtlinge gearbeitet. Das ist auch gut so. Allerdings darf man dabei die Menschen aus dem Balkan nicht vergessen! Unter ihnen gibt es auch jetzt noch einen großen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsbedarf und das wird auch in Zukunft noch länger der Fall sein. Zudem kann es nur hilfreich sein, einen Blick zurück zu werfen, wenn man die heutige Flüchtlingskrise im Hinblick auf die psychische Gesundheit der Menschen zu bewältigen versucht. Die Kulturen sind sehr unterschiedlich, keine Frage. Aber man weiß nun, dass Migration für jeden Menschen eine psychische Belastung ist. Und Krieg bleibt Krieg. Und Trauma bleibt lebenslänglich.

(*Namen wurden geändert)

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Zeitungsprojektes des Münchner Bündnis gegen Depression zur 6. Münchner Woche für seelische Gesundheit, die vom 5. – 20. Oktober 2017 mit dem diesjährigen Schwerpunktthema „Migration“ stattfindet. Die Zeitung „Journal zur Münchner Woche für Seelische Gesundheit“ erscheint im September 2017 und wird bei den über 190 Veranstaltungen der Woche kostenlos erhältlich sein. Der Artikel wird im WSGJ neben zahlreichen interessanten Artikeln zum Thema seelische Gesundheit in gekürzter Fassung zu lesen sein. Die Autorin ist Mitglied des Redaktionsteams.


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