Von Alexandra Lange
+++Triggerwarnung+++ Der folgende Text beinhaltet an einigen Stellen explizite Beschreibungen von Kriegs- und Gewaltszenen und kann triggern!
Dragan leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er hat die Belagerung von Sarajevo überlebt. Doch siebzehn Jahre lang erinnert er sich nicht einmal mehr daran, dass er überhaupt dort war. Bis sich Zwänge in sein Leben einschleichen und er nach einem Suizidversuch eine Therapie beginnt. Da kommt der ganze Horror dann flashbackartig wieder ans Tageslicht.

Wer Dragan* kennen lernt, denkt sich sofort: „Was für ein netter und sympathischer Typ.“ Dragan ist muskulös gebaut, hat kurze braune Haare und Bart. Er trägt modische und stilbewusste Kleidung, ein neongelbes T-Shirt mit tiefem Ausschnitt, hellgraue Used-Look-Jeans und Turnschuhe. Dazu mehrere Ketten mit buddhistischen Anhängern und diverse Armbänder. Thailändisch wirkende, meditativ-abstrakte Tattoos, zieren seinen linken Arm, weitere blitzen unter seinem T-Shirt hervor. In den Ohren trägt er Piercings. Aber nichts von alldem wirkt irgendwie prollig, geschweige denn angeberisch. Es ist einfach sein Stil. Er wirkt jung, lediglich einige graue Haare verraten vielleicht ein bisschen seine Vierzig. Sein Lächeln ist bescheiden, sein Auftreten höflich zurückhaltend aber auch freundlich und aufgeschlossen. Seine Stimme ist ruhig und sanft. Man fühlt sich sofort wohl in seiner Nähe. Seine Worte wählt er eloquent, seine Sprache klingt außerordentlich gebildet. Mehrmals werden wir uns zusammensetzten, und er erzählt mir seine Geschichte. Diese Geschichte wird mich nicht mehr loslassen. Sie ist schockierend, ergreifend, entsetzlich und tragisch. Sie ist außergewöhnlich und doch beispielhaft. Beispielhaft für das Grauen, das ein Bürgerkrieg in Menschen hervorbringen kann. Und beispielhaft dafür, was es bedeutet mit einer posttraumatischen Belastungsstörung leben zu müssen.
Dragan ist 1977 in München geboren. Seine Eltern waren 1975 als Gastarbeiter aus Jugoslawien in die Bundesrepublik eingewandert und lernten in München sich an ihrem Arbeitsplatz bei Rodenstock kennen. Dragans Mutter ist Serbin, sein Vater Bosnier. Seine Großmutter väterlicherseits war Überlebende des Konzentrationslagers Wien. Sie war damals Studentin und kämpfte während des Zweiten Weltkriegs als Partisanin gegen die kroatischen Ustascha und die Deutschen, und wurde so inhaftiert. Beide Elternteile von Dragan sind ohne Vater groß geworden. Dragan selbst wächst zunächst zusammen mit seinen beiden Eltern und seiner drei Jahre jüngeren Schwester in München-Schwabing auf. Er besucht dort die Grundschule, dann die Hauptschule. Während er in der Grundschule hauptsächlich deutsche Mitschüler hat, ist auf der Hauptschule ein multiethnischer Mix vertreten: Marokkaner, Türken, Italiener, Afghanen, Jugoslawen, Angolaner und einige wenige Deutsche. In der Freizeit treffen sich die Kinder meistens auf dem Sportplatz. Während der Ferien fährt die Familie oft in die Heimat der Eltern, um die Familie zu besuchen. Sowohl nach Serbien als auch nach Bosnien.
Die Schule ist für Dragan von Anfang an fürchterlich. Die ganze Zeit quasi eingeschlossen in einem Klassenzimmer zu verbringen und sich mit irgendwas konzentriert beschäftigen zu müssen, ist für ihn kaum zu ertragen. Er sitzt seine Zeit ab, die meiste Zeit still in der Ecke, mit den Gedanken woanders. Er erscheint abwesend, fast apathisch. Seine Noten sind schlecht. Seine Lehrer verzweifeln an ihm. Von seinen Eltern bekommt er kaum Unterstützung. Die Mutter bemüht sich zwar, versucht das Kind zu loben, kommt jedoch nicht recht weiter. Dragans Vater traktiert ihn stattdessen konstant. Er schreit ihn oft an, zieht ihn an den Ohren. Es fallen Sätze wie „Du bist gar nichts wert.“ oder „Du kriegst ja nichts hin.“ Außerdem kann er, selbst ohne Vaterfigur aufgewachsen, mit dem Kind nicht viel anfangen und ist auch nicht in der Lage sich zu überlegen, was für ein Kind in welchem Alter wichtig, interessant und angemessen ist. Immerhin nimmt er Dragan einmal mit zu einem Kinder- und Jugendpsychiater. Doch in den Achtziger- und Neunziger-Jahren wusste man noch nicht viel über Kinder, die in der Schule schlechte Leistungen bringen, weil sie möglicherweise einfach nicht in der Lage sind, sich auf eine Sache zu fokussieren. Somit scheitert dieser gut gemeinte Versuch. Die Eltern streiten sich unaufhörlich oder reden wochenlang gar nicht mehr miteinander. So ist es für Dragan zunächst eine Erleichterung, als sich seine Eltern scheiden lassen. Er ist damals dreizehn. Ein letztes Mal fährt der Vater gemeinsam mit seinen beiden Kindern in seine Heimat Sarajevo. Dort lernt Dragan die zwei Jahre ältere Lucija* kennen. Sie wird seine erste „Teenagerliebe“ sein. Mit ihr erlebt er auch sein erstes Mal. Als Dragan nach den Ferien wieder zurück in Deutschland ist, verlieren sich die beiden allerdings aus den Augen.
Zurück in Deutschland ist Dragan nach der Scheidung der Eltern froh, dass zu Hause wenigstens endlich Ruhe herrscht. Seine schulischen Leistungen stabilisieren sich etwas, sodass er nach der 7. Klasse Hauptschule auf die 7. Klasse Realschule wechseln kann. Dort findet er neue Freunde, Deutsche, aber auch einige „Jugos“, ein Kroate, ein Montenegriner, die sich schließlich auseinander entwickeln. Denn der Krieg beginnt. Dragan selbst kann das nicht nachvollziehen. Er weiß noch nicht einmal genau, was er eigentlich ist. In seiner Kindheit sprach er mit seinen Eltern zwar noch Serbokroatisch, das hat er aber inzwischen größtenteils vergessen. Außer den Familienmitgliedern in Serbien und Bosnien verbindet ihn nicht besonders viel mit seinem ethnischen Hintergrund. Einer Religion gehört er nicht an. Er ist weder Moslem noch Orthodox noch Katholik.
Dragans Mutter findet nicht lange nach der Scheidung einen neuen Partner. Den lehnt Dragan allerdings von Grund auf ab. Er kann nicht nachempfinden, wie seine Mutter mit diesem Mann eine Beziehung eingehen kann. So entfremdet sich Dragan weiter von seiner Familie, und ist noch mehr als je zuvor auf sich allein gestellt. Er hat noch nie so etwas wie „Halt“ von seinen Eltern oder von einer anderen Bezugsperson bekommen. Deswegen sucht er sich den Halt unbewusst irgendwo anders. Er wird immer wieder stark und autoritär wirkende Männer bewundern, sozusagen als unbewussten Vaterersatz.

Als Dragan 16 Jahre alt ist, nimmt ihn ein kroatischer Bekannter aus der Schule mit in ein Café. Dort lernt er ein paar Männer kennen, denen das Café offenbar gehört und die dort eine, wie es den Eindruck macht, feste Gemeinschaft bilden. Die Männer beeindrucken den Teenager und sie fragen ihn, ob er nicht am nächsten Tag wieder kommen will, sie hätten „Arbeit“ für ihn. Er will. Und er kommt am nächsten Tag wieder. Die Männer erkennen schnell, dass Dragan ein extrem heller Kopf ist und ihnen für ihre gemeinsame Sache nützlich sein kann. Diese „gemeinsame“ Sache ist allerdings nichts weniger als organisierte Kriminalität. Illegaler Geldverleih, Drogen, Zwangsprostitution. „Sehr wahrscheinlich die jugoslawische Mafia“, vermutet Dragan heute. Denn die meisten der Männer sind bereits jenseits der 30. Später wird sich zeigen, dass sie gut vernetzt sind. Sie machen Dragan zu ihrem Finanzbuchhalter für den illegalen Geldverleih. Die „Kunden“, an die sie Geld verleihen, sind keine Kriminellen, sondern Leute aus allen Schichten, die dringend schnelles Geld benötigen und sich dadurch erpressbar machen. Denn ihnen droht Gewalt. Dragan selbst hat es erlebt. Seine Rolle bleiben zwar die Finanzen, zweimal aber zwingen ihn die Männer, sie zu einem „nächtlichen Ausflug“ ins Rotlichtmilieu zu begleiten. „Ich saß zwar nur wie ein Hase in der Ecke, aber ich konnte zu sehen, wie sie manche Frauen in dem Bordell bedrohten. Ich war nur froh als ich wieder gehen durfte.“ berichtet Dragan. Die Männer haben indes keine strafrechtliche Verfolgung zu befürchten, denn unter ihren Kunden sind sehr viele Polizisten, die sie bei der Polizei decken, aber auch Ärzte, die Totenscheine ausstellen, die eine natürliche Todesursache bescheinigen, auch wenn es sich um eine ganz „andere“ Todesursache handelt. Das bekommt Dragan sozusagen „vom Nebentisch“ mit. Somit weiß er bald, mit wem er es hier zu tun hat.
Er verdient so viel Geld, dass er damit überhaupt nichts anfangen kann. Er geht zu Hause zwar nur noch ein und aus, seine Mutter weiß selten wo er sich herumtreibt. Dennoch würde sie misstrauisch werden, wenn sie mitbekäme, dass ihr Sohn plötzlich anfängt, sich teure Sachen zu kaufen. Dragan gibt keine einzige Mark seines Verdienstes aus. Er hortet das Geld einfach in bar unter seiner Matratze.

Doch schon nach wenigen Monaten, er ist jetzt 16 und die Pfingstferien sind gerade vorbei, hat er keine Lust mehr auf dieses kriminelle Geschäft. Er packt das gesamte Geld ein, das er verdient hat, fährt in das Café und wirft es den Männern auf den Tisch, mit der einzigen Aussage: „Hier habt ihr euer Geld zurück. Ich bin raus“. Sie lassen ihn gehen und er wird nie wieder Kontakt zu ihnen haben. Aber nicht nur davon hat er genug, er hat plötzlich von allem genug. Er geht zwar bis Ende des neunten Schuljahres noch in den Unterricht, liefert aber nichts mehr ab, sodass er das Jahr nicht besteht und ohne Abschluss von der Schule abgeht.
Nichts interessiert ihn mehr. „Mir war endgültig alles egal“ sagt Dragan. Trotzdem muss er irgendwie überlegen, was er nun tun möchte. Zunächst nimmt er über Freunde aus der Schule verschiedene Gelegenheitsjobs an, die meisten davon schwarz. Dann bietet ihm das Arbeitsamt eine berufsfördernde Maßnahme an und Dragan absolviert anschließend eine Ausbildung zum Zahntechniker. Er zieht von zu Hause aus, ein zu Hause, das für ihn schon lange keines mehr ist. Er zieht in eine eigene kleine Wohnung in der ehemaligen Olympiasiedlung. Nach der Ausbildung arbeitet er noch ein Jahr lang als Zahntechniker-Geselle, bis er die Arbeitsstelle nach einer langen Erkrankung am Pfeifferschen Drüsenfieber verliert. Wieder macht er Gelegenheitsjobs, jobbt in Nachtclubs und ist bald überhaupt fast nur noch nachts unterwegs. Er zieht mit seinen Kumpels aus der Schule regelmäßig um die Häuser und sie feiern die Nächte durch. Schnell sind sie bekannte Hunde im Münchner Nachleben, gehen in allen Clubs umsonst ein und aus. Vor allem in dem bekannten Münchner Nobelschuppen „P1“ werden sie mit einem Servus empfangen, sitzen in dessen Hinterzimmern, trinken und koksen. Dragan erzählt auch, dass er in dieser Zeit viel Sex mit verschiedenen Frauen hatte. „Die Person war mir dabei völlig egal. es ging nur um den Kick, ohne dabei etwas fühlen zu müssen.“ Denn fühlen wollte er nichts.
Mit 25 lernt Dragan auf einem Klassentreffen die gleichaltrige Samira* und deren dreijährige Tochter Louisa* kennen. Samira lebt zu dieser Zeit mit ihrer Tochter in einem Mutter-Kind-Haus, wo sie Zuflucht vor ihrem streitsüchtigen Ehemann gefunden hat. Dragan und Samira verlieben sich ineinander, werden ein Paar. Als die beiden eines Abends verabredet sind, gibt es ein kleines Missverständnis. Samira soll Dragan mit dem Auto abholen, aber Samira denkt, es sei umgekehrt. Doch Dragan hat weder ein Auto, geschweige denn einen Führerschein. „Einen Führerschein zu machen und Auto zu fahren stand für mich einfach niemals zur Debatte.“ sagt Dragan. Auf ein Nachhaken, ob er sich mal die Frage gestellt hat warum eigentlich nicht, weiß er nicht so recht zu antworten. „Ich habe mich im Auto einfach fürchterlich gefühlt.“, sagt er. Auch Samira stellt ihm Aufgrund des Missverständnisses diese Frage. Er erklärt ihr, es habe einmal einen Unfall gegeben. Mehr kann er zu diesem Zeitpunkt nicht dazu sagen. Sie fragt nicht weiter.
Die Beziehung zu Samira und seine Rolle als Stiefvater bringen Dragan dazu, sich um einen festen Job zu bemühen. Er hat Glück und findet genau die richtige Arbeit für sich. Ein Münchner Maschinenbauunternehmen sucht für den Prototypenbau explizit nach Zahntechnikern. Er bekommt die Stelle und arbeitet bis heute in diesem Bereich. Samira absolviert eine Ausbildung zur Erzieherin. Samira, Louisa und Dragan ziehen in eine gemeinsame Wohnung. Als das Paar vier Jahre zusammen ist, heiraten sie. Denn es ist ein zweites Kind unterwegs. Als Jasmina* geboren wird, scheint das neu erworbene Familienglück perfekt.

Doch alles ändert sich, als Jasmina zwei Jahre alt wird. Dragan bekommt plötzlich Zwänge. Und er spürt ein mulmiges Gefühl, so als ob man gerade aus einem Albtraum erwacht ist, sich aber an nichts Konkretes erinnern kann. Zunächst schleichen sich die Zwänge nur langsam ein, aber dann werden immer drängender. Dragan muss alles zählen und alle Linien, Symmetrien und Muster, eigentlich seine gesamte Umgebung wohin er auch sieht, sozusagen „abscannen“. Sein Kopf rattert unaufhörlich. Über mehrere Jahre lebt er damit. Aber eines Abends, da ist Dragan 34, ist er so verzweifelt, dass er einen Nervenzusammenbruch erleidet. Er sehnt sich so sehr nach Ruhe im Kopf. Doch so etwas wie „Ruhe“ hat er schon lange nicht mehr verspürt. Unbewusst fasst er in dieser Nacht einen Entschluss. Und plötzlich ist sie da, diese wunderbare, langersehnte Ruhe. Am nächsten Morgen geht er, immer noch seelenruhig, in die Arbeit. Er bringt eine Aufgabe zu Ende. Dann geht er in die Umkleideräume des Betriebes und schneidet sich beide Pulsadern auf. Doch er wird gefunden und überlebt.
Noch am selben Tag findet sich Dragan in der geschlossenen Krisenstation einer psychiatrischen Klinik wieder. Der Alltag dort gibt ihm Halt, denn er ist getaktet und folgt immer einem gleichen Ablauf. Wenngleich doch ziemlich eintönig. Aber er bekommt auch erstmals Unterstützung und kann sich dort stabilisieren. Er beginnt zu zeichnen. Er zeichnet die Motive, die er sich später tätowieren lassen wird. Alle haben sie eine Bedeutung für ihn. Zuerst kommt ein Tattoo am Rücken, dann mehrere auf der Brust und schließlich sein linker Arm. „Ich habe das Gefühl bekommen, dass ich das machen muss. Die Tattoos gehören zu mir, und das darf man auch sehen.“ Auf seine inneren Handgelenke lässt er sich die Namen seiner beiden Töchter tätowieren. So sieht man die Narben nicht mehr. „Das war mir sehr wichtig.“ sagt Dragan.
Nach sieben Wochen Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie besucht Dragan eine psychosomatische Tagesklinik. Dort soll er in einer Gruppentherapie seine Zwänge therapieren. Ihm drängt sich jedoch immer mehr ein Gefühl auf, dass da noch etwas anderes ist, außer den Zwängen. Irgendetwas, das mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Das erzählt er dann auch den Ärzten und Therapeuten in der Tagesklinik. Die verlegen ihn daraufhin in die vollstationäre Klinik, wo er die Therapie in einem geschützten Rahmen fortsetzen kann. Im Rahmen der Gruppentherapie für Zwangspatienten muss jeder Patient einmal vor den anderen Teilnehmern seine Biographie vorstellen. Dragan hat keine Ahnung, wie er das machen soll. Seine Therapeutin rät ihm, es während der Stunde am Flipchart stichpunktartig zu versuchen. Er steht dann also mit dem Flipchart vor der Gruppe, fängt bei seiner Kindheit an und versucht, sich weiterzuarbeiten. Als er allerdings im Alter von 16 Jahren ankommt, kollabiert Dragan. Er bricht zusammen, ist nicht mehr ansprechbar, nimmt nichts mehr um sich herum wahr: er wird von heftigen Flashbacks heimgesucht. Als er wieder zu sich kommt, kann er sich nicht mehr daran erinnern, was geschehen ist. Er ahnt jetzt aber, dass irgendetwas Schlimmes in seinem Leben passiert sein muss. Er sagt, er glaubt, er hatte einmal eine Tochter, die zwei Jahre alt war, die aber tot ist. Die Ärzte wissen jetzt: Dragan ist schwertraumatisiert. Die Zwänge spielen erstmal keine Rolle mehr. Er muss eine Traumatherapie machen. Er muss die Erinnerung die ihm fehlt, die „Lücke“ in seinem Gedächtnis, in Einzelsitzungen mit seiner Therapeutin Stück für Stück schließen. Es ist wie ein zerschnipselter Film. Er muss die einzelnen Filmstreifen hervorholen, ordnen und in der richtigen Reihenfolge wieder zusammensetzen. Und was am Ende herauskommt, ist der blanke Horror.
Als Dragan 16 Jahre alt ist, zu der Zeit als er kurz in der Bandenkriminalität im illegalen Geldverleih arbeitet, wird er eines Tages vom Bandenchef zu sich zitiert. Dieser teilt ihm mit, dass er in Sarajevo eine zweijährige Tochter hat. Er soll dort hinfahren und „das klären“. Die Männer setzen Dragan in den Pfingstferien der 9. Klasse in einen Bus nach Sarajevo. Es ist Mai 1994. Sarajevo steht seit zwei Jahren unter Belagerung. Die Stadt ist von der Armee der bosnischen Serben, Einheiten der verbliebenen jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs eingekesselt. Der Flughafen ist eingenommen und die Ein- und Ausfallstraßen werden durch Minen und Scharfschützen unpassierbar gemacht. Doch der Bus, in dem Dragan nun sitzt, fährt einfach durch, wird nirgends angehalten. Niemand kontrolliert auf dem gesamten Weg von München nach Sarajevo irgendwelche Papiere oder sonst irgendetwas.


Man kann sich kaum vorstellen, wie schlimm es für Dragan gewesen sein muss, diese Geschichte aus seiner Vergangenheit zu erfahren. Doch so schrecklich dieses Erlebnis ist, es kommt fast noch schlimmer. Während der Therapie erfährt Dragan nämlich noch etwas anderes über sich und jene fünf Tage und vier Nächte in Sarajevo im Mai 1994. Wie schon erwähnt, verbrachte er die Tage mit Lucija und Amelja im Wohnzimmer der Familie auf der Couch. Abends aber, sobald es dunkel wird, wird er von dem Namenlosen abgeholt und mit auf die Straße genommen. Der hält ihm eine Kalaschnikow in den Rücken und zwingt ihn mitzukommen. Der Namenlose strahlt große Entschlossenheit und Autorität auf Dragan aus, wie schon damals vor fast drei Jahren. Aus Angst um sein Leben und das seiner Tochter und deren Mutter, völlig auf sich allein gestellt in der Fremde, in einem Land, in dem Krieg herrscht, wehrt er sich nicht. Der Namenlose wird den Sechzehnjährigen Teenager in den folgenden vier Nächten als Kindersoldaten für paramilitärische Gewalttaten gegen Zivilisten missbrauchen. Nachts ist es dunkel im belagerten Sarajevo. Die Straßen sind leer. Gezielt werden Häuser in der Stadt aufgesucht und überfallen. Es wird geschossen. Menschen sterben. Wer da wen aus welchen Gründen ermordet, davon hat der Junge gar keine Ahnung. Und das Perfideste: als der Namenlose, der ihn kurz zuvor noch mit einem Gewehr bedroht hat, und der eigentlich der Onkel seiner Tochter ist, Dragan „nach getaner Arbeit“ wieder bei Lucija abliefert, klopft er ihm huldigend auf die Schulter. Bis er ihn am nächsten Abend wieder abholt. Tagsüber liegt Dragan also meist kuschelnd mit Lucija und Amelja auf der Couch und lässt sich von den nächtlichen Horrorszenarien nichts anmerken. Wohlwissend, dass kurz darauf wieder etwas Schlimmes passieren wird. Nach der vierten Nacht wird es selbst dem Namenlosen zu viel. Also soll Dragan Lucija und Amelja mit aus dem Land und nach Deutschland nehmen. … Der Bruder von Lucija, an seinen Namen kann sich Dragan nicht mehr erinnern, deshalb nennen wir ihn den „Namenlosen“, hat zwei Autos und anderen Mann als Fahrer organisiert, der die drei aus der Stadt bringen soll. So machen sie sich zu viert auf den Weg. Der andere Mann fährt alleine mit dem einen Auto voraus. Hinter ihm fährt Dragan das zweite Auto. Lucija sitzt neben ihm, Amelja auf der Rückbank. Doch sie werden nicht weit kommen…

Wie er nach dem Unfall zurück nach München gekommen ist, daran hat Dragan überhaupt keine Erinnerung mehr. Er erinnert sich nur noch daran, dass seine Kleidung voller Blut war als er zu Hause ankommt. Er musste sich erst waschen und umziehen, bevor ihn seine Mutter wieder sieht. Die wusste nichts von alledem und weiß es bis heute nicht.
Als die Ferien vorbei sind, hat Dragan schon keine einzige Erinnerung mehr an das Geschehene. Er fühlt nur, dass sich etwas in ihm verändert hat. Im ist plötzlich alles völlig egal. Und er hat keine Lust mehr auf das kriminelle Geschäft, mit dem er so viel Geld verdient, das er gar nicht ausgibt. Er packt das gesamte Geld ein, das er verdient hat, fährt in das Café und wirft es den Männern auf den Tisch mit der einzigen Aussage: „Hier habt ihr euer Geld zurück. Ich bin raus.“ Sie lassen ihn gehen und er wird nie wieder Kontakt zu ihnen haben. Aber nicht nur davon hat er genug, er hat plötzlich von allem genug. Er geht zwar bis Ende des neunten Schuljahres noch in den Unterricht, liefert aber nichts mehr ab, sodass er das Jahr nicht besteht und ohne Abschluss von der Schule abgeht…
Nach einem halben Jahr Daueraufenthalt in der psychosomatischen Klinik hat Dragan den Großteil des Filmes wieder zusammengesetzt, auch wenn einige Dinge wohl für immer im Unklaren bleiben werden. Er geht in dieser Zeit durch die Hölle, einmal mehr. Die Erinnerungen, die Stück für Stück aus dem scheinbaren Nichts hochschießen, bereiten ihm unbeschreibliche Ängste. Nachts schläft er in seinem kleinen Einzelzimmer auf dem Boden unter dem Tisch. Um sich geschützt zu fühlen. Der Kleiderschrank wäre ihm lieber gewesen, aber der ist leider zu klein. Als die ersten Szenen der Nächte von Sarajevo hochkommen, bekommt Dragan nicht nur Angst um sich selbst, sondern auch Angst alles um alles um ihn herum. Er hat Angst, dass er die Kontrolle über sich verlieren könnte, um sich schlagen, sich selbst oder andere verletzen. Deswegen machen sie fortan die Therapiesitzungen zu dritt. Therapeutin, Patient und Co-Therapeut. Niemand in seinem Umfeld darf Dragan auch nur irgendwie berühren. Vor allem nicht am Rücken, und wehe irgendwer klopft ihm auf die Schulter. Er bekommt Medikamente. Gegen die Schlafstörungen, die Panik, die Depressionen, die Ängste und die Zwänge. Sie sollen es ihm erleichtern, die Therapie durchzustehen und danach auch im Leben wieder besser zurecht zu kommen. Jetzt, wo die Büchse der Pandora geöffnet ist. Aber wie soll man mit so einer Geschichte jemals wieder zurecht kommen?
Aber nicht nur die posttraumatische Belastungsstörung kommt während des Klinikaufenthaltes ans Tageslicht. Nach diversen Testverfahren wird bei Dragan zusätzlich das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom diagnostiziert. Das erklärt, warum die Schule für ihn so schwer zu ertragen war. Die Ironie dabei ist, dass sie in der Klinik zusätzlich auch eine außergewöhnliche Hochbegabung feststellen. Dragan besitzt einen Intelligenzquotienten von über 140. Er gehört mit diesem Wert zu den 0,15% der intelligentesten Menschen. Die Durchschnittsintelligenz der Bevölkerung liegt bei einem IQ von 100. Über einem Wert von 110 ist man überdurchschnittlich begabt, unter 90 unterdurchschnittlich. Die Kurve ist eine Normalverteilung. Ab 130 gilt man als hochbegabt, unter 70 als geistig behindert. Man muss sich also vorstellen: der Unterschied von Dragan zu einem durchschnittlich Begabtem ist größer ist als der eines durchschnittlich Begabtem zu einem geistig Behinderten. Das heißt konkret: er ist zu 98,5% von „Dümmeren“ umgeben. Aber gerade Kinder und Erwachsene mit einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom können ihre Hochbegabung nicht entfalten, da sie in Gedanken nicht lange bei einem Thema bleiben können. Dragan bekommt hohe Dosen des Medikaments Ritalin (Methylphenidat) das, eigentlich ein Psychostimulanz, bei ADHS/ADS-Patienten jedoch beruhigend, fokussierend und konzentrationsfördernd wirkt.

Als Dragan nach Hause entlassen wird, nachdem er „den Film“ wieder komplett hat, geht es ihm besser, aber alles andere als gut. Eine so schwere und komplexe PTBS kann man nicht durch einen einzigen Klinikaufenthalt heilen. Oft bestehen Symptome fort und es ist lebenslang Therapie nötig. Die Betroffenen leiden meist lebenslänglich. Heute ist Dragan 40 Jahre alt. Sein Leben hat sich für immer verändert. Inzwischen war er zwei weitere Male vollstationär in der psychosomatischen Klinik. Ambulante Therapie ist bei ihm kaum möglich, da die ihn so destabilisiert, dass er im Alltag nicht mehr funktioniert.
Nachts kann Dragan kaum schlafen, hat immer wieder Albträume. Fast täglich drängen sich ihm die Erinnerungen von damals auf. Ansonsten bleibt ein ständiges ungutes Gefühl. Ein Gefühl von Scham, von Schuld, von Selbsthass. Körperliche Nähe und Zärtlichkeit kann er bis heute kaum ertragen. Menschenmengen überfordern ihn schnell. Am liebsten würde er sich die ganze Zeit zurückziehen. Im Auto kann er nur mitfahren, wenn seine Frau Samira am Steuer sitzt, und das nur im familieneigenen Auto. In die Arbeit muss er allerdings mit dem Bus fahren. Das ist für ihn nur leider kaum möglich. Sobald er einen Bus betritt, wird ihm heiß, er bekommt Panik. Die Hemmschwelle, in den Bus zur Arbeit zu steigen ist jeden Morgen schier unüberwindlich. Das ist für Dragan ein sehr großes Problem, denn dadurch fehlt er häufig. Inzwischen hat er so viele Minusstunden angesammelt, dass sein Job auf dem Spiel steht. Aber Dragan ist auf die Arbeit angewiesen. Schließlich hat er eine Familie, und das Einkommen seiner Frau Samira reicht nicht für alle vier aus. Im Sommer kann Dragan mit dem Fahrrad in die Arbeit fahren. Es ist eine lange Strecke, aber alles ist ihm lieber als der Bus. Wenn er es dann aber einmal in die Arbeit geschafft hat, arbeitet er so effizient und schnell, dass er theoretisch innerhalb eines halben Tages die Arbeit seiner gesamten Abteilung erledigen könnte. Das darf er aber niemandem sagen, er würde damit seinen Kollegen schaden. Also muss er seine Geschwindigkeit irgendwie drosseln, damit er den ganzen Tag zu tun hat. Das macht ihn nervös. Immerhin hat er das Glück, von seiner Firma wertgeschätzt und unterstützt zu werden. Er kann jederzeit, wenn er es braucht, Pausen einlegen. Da macht er dann häufig Achtsamkeitsübungen, die er in der Therapie gelernt hat.
Ansonsten aber läuft Dragan ständig Gefahr, immer und überall Triggern ausgesetzt zu werden, die ihn schwer belasten, weil sie ihn in irgendeiner Form an sein Trauma erinnern. Sofort schnürt ihm dann ein ungutes Gefühl die Luft ab. Ein Gefühl des Grauens und der Panik, steigt in ihm hoch wie heiße Lava. Das kann die Sirene eines Krankenwagens sein, der zu nah an ihm vorbei fährt; es kann ein unbestimmter Knall sein, der von irgendwo zu hören ist; oder auch einfach mal eine Wasserflasche, die zu laut knistert. Dann wird Dragan schnell unruhig und, ohne es zu wollen, manchmal auch aggressiv. Wenn er mit seinem Hund raus geht, und es schon dunkel wird, sieht er im Park schattenhafte Gestalten, die gar nicht da sind. Auch die Begegnung mit kleinen Kindern um die zwei Jahre bereiten ihm große Probleme. Dragan fällt bei solchen Triggern oft in Dissoziationen, einem Schutzmechanismus des überfluteten Gehirns, das einen Teil der Wirklichkeit ausblendet um diese ertragen zu können. Das heißt, er zieht sich innerlich zurück. Generell hat er am Allerliebsten seine Ruhe. Darunter leidet auch seine Ehe. Nach seinem Suizidversuch hat Samira ihren Mann zwar sehr unterstützt. „Inzwischen hat sie sich aber mehr oder weniger damit abgefunden, dass ich nicht mehr der bin, den sie einmal geheiratet hat und hat irgendwie resigniert.“ beschreibt er. In den Urlaub muss die Familie meist ohne den Familienvater fahren. Auch genießen kann Dragan nichts. Im Gegenteil, wenn ihm jemand, oder er sich selbst, etwas Gutes tun will, denkt er innerlich sofort: „Das darf ich nicht. Das habe ich nicht verdient.“ Geschenke zu bekommen ist für ihn unerträglich. Denn in seinen Augen trägt er eine unverzeihliche Schuld. Schuld, die er in seinen Augen auf sich geladen hat. Die Schuld, nicht verhindert zu haben, dass Menschen in seiner nächsten Nähe erschossen wurden. Und die Schuld, als einziger den Unfall überlebt zu haben. Dazu kommt die Trauer um Lucija und seine erste Tochter Amelja. Und dann kommt das Schlimmste: die überdimensional große Angst, dass seiner Tochter Jasmina jemals irgendetwas zustoßen könnte. Dass sie vielleicht auch noch vor ihm sterben könnte. Niemals darf Jasmina irgendetwas passieren!
Trotz all seiner Probleme und Ängste ist Dragan aber ein aufopferungsvoller und fürsorglicher Vater für seine Töchter, vor allem für Jasmina. Sie gibt ihm Kraft und Mut, trotz allem weiterzumachen. Er hat ihr erklärt, dass er manchmal „Kopfweh“ hat, damit sie nicht zu verunsichert ist, wenn er dissoziiert. Jasmina ist ein richtiges Papa-Kind. Inzwischen ist sie allerdings schon 12 und kommt langsam in die Pubertät. Die Beziehung zum Vater verändert sich dementsprechend. „Der Papa wird weniger interessant, daran muss ich mich erstmal gewöhnen. Aber so geht es vermutlich allen Eltern, wenn ihre kleinen Kinder anfangen erwachsen zu werden.“ erzählt Dragan lächelnd. Eine weitere Stütze ist für ihn der Familienhund Leila*, eine Deutsche-Boxer-Hündin. Boxer sind sehr lieb, sehr ruhig und unheimlich anhänglich. Auch um sie kümmert sich Dragan liebevoll. Er nimmt sie sogar mit in seine ambulanten Therapiestunden. Hunde spüren nämlich sofort, wenn sich bei ihrem Besitzer etwas verändert und helfen auch dabei, Menschen, die in eine Dissoziation fallen, wieder in die Gegenwart zurückzuholen, oder das Abdriften sogar zu vermeiden.

In einem halben Jahr will Dragan noch ein viertes Mal in die psychosomatische Klinik gehen. Er will nicht mehr so depressiv sein. Er will regelmäßig und stabil in die Arbeit gehen. Er traut sich nicht, ohne seine Schuld zu handeln. Wenn man ihn fragt, ob es etwas gibt, das ihm Freude bereiten würde, fällt ihm nichts ein. Er möchte gerne wissen, wie es sich anfühlt, sich auf etwas zu freuen. Aber er ist fest überzeugt, dass er sich nicht freuen darf.
Dragans Geschichte zu erfahren tut mir in der Seele weh. Zu wissen, wie er sich kasteit und quält, tut mir in der Seele weh. Dass ihm die viele Therapie, die er bist jetzt gemacht hat, nicht schon mehr geholfen hat, tut mir in der Seele weh. Am meisten aber tut es mir weh, zu sehen, wie die Perversion eines sinnlosen Bürgerkrieges einen Menschen für immer zerstören kann. Denn Dragans Seele schreit unaufhörlich. Nur schreit sie eben lautlos.
*Namen geändert
Bilder: Fotolia
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