von Alexandra Lange
Über lange Zeit existierte ein fast parareligiöser Schulenstreit zwischen Vertretern der Kognitiven Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse. Heute haben sich die beiden wichtigsten Verfahren angenähert, man hat jeweils die Vorteile des anderen erkannt. Weitere Psychotherapieverfahren wurden entwickelt. Besonders vielversprechend ist die Schematherapie. Das in USA entwickelte Verfahren erfreut sich nun auch in Deutschland steigender Beliebtheit. Kein Wunder, denn es handelt sich um einen eingängigen Therapieansatz, der alle Vorteile aus bewährten Methoden und Techniken in ein effektives, strukturiertes Gesamtkonzept integriert.
Andreas Blume (Name von der Red. geändert) ist 49 Jahre alt und ist beruflich sehr erfolgreich. Er ist Arzt und Leiter einer ambulanten Palliativeinrichtung mit einem Team von 50 Mitarbeitern. Sogar einen Preis hat er für seine Arbeit schon gewonnen. Vor zwei Jahren kam es jedoch zu einem persönlichen Konflikt am Arbeitsplatz. Blumes jahrelanger Mentor, inzwischen einiges über die 70, weigerte sich, in den Ruhestand zu gehen. Blume sah sich schließlich als Geschäftsführer gezwungen, von ihm die Beendigung seiner ärztlichen Tätigkeit zu verlangen. Es kam zum persönlichen Bruch zwischen den Beiden. Infolge dessen fiel Andreas Blume in eine schwere depressive Episode. Die zweite in seinem Leben, schon vor 10 Jahren hatte es ihn getroffen. Seine behandelnde Ärztin empfahl ihm, es doch einmal mit Schematherapie zu versuchen. So wandte sich Andreas Blume an das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München (MPI), das heute die Schematherapie als festen Bestandteil in sein Behandlungskonzept integriert hat. Da es ihm zu dem Zeitpunkt sehr schlecht ging entschloss sich Blume, sich dort zunächst für mehrere Wochen in stationäre Behandlung zu begeben.
Die Schemata und Modi als eingängiges Krankheitsmodell
Die Schematherapie wurde Ende der 80er-Jahre von Jeffrey Young in den USA entwickelt. Young war kognitiver Verhaltenstherapeut, musste aber feststellen, dass die kognitive Verhaltenstherapie bei manchen Patienten nicht ausreichend wirkt, vor allem bei jenen Patienten, bei denen hinter Symptomen wie Ängsten oder Depressionen die gesamte Persönlichkeitsstruktur geprägt war. Er entwickelte daraufhin die Schematherapie, indem bewährte Elemente und Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie und der psychodynamischen Therapie sowie aus neueren Therapieverfahren wie der Gestalttherapie, der Hypnotherapie oder der Transaktionsanalyse zu einem strukturierten Gesamtkonzept integrierte. Die Grundannahme der Schematherapie ist die, dass sich negative Lebenserfahrungen aus der Kindheit so in die Persönlichkeit einprägen, dass sie – meist unbewusst – im Erwachsenenleben fortbestehen. Das kann auch auf der Beziehungsebene viele Probleme machen. Menschen haben fünf elementare psychologische Grundbedürfnisse: nämlich Bindung, Kontrolle nach Außen bzw. Autonomie, Selbstkontrolle, Selbstwert sowie Lust bzw. Unlustvermeidung. Wird eines oder mehrere dieser Grundbedürfnisse von den Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen oder der Ausgestaltung der Umwelt frustriert, so können, wie Young beobachtete, sogenannte dysfunktionale Schemata entstehen, die sich wie ein „Fußabdruck“ im neuronalen Netz des Gehirns einbrennen. In der Praxis ließen sich insgesamt 18 Schemata beobachten, die aus fünf Schemadomänen hervorgehen, je nach dem welches der fünf Bedürfnisse frustriert wurde. Das Kind hat dann drei Möglichkeiten, die dabei entstehenden negativen Gefühle zu bewältigen: sie erdulden, sie aktiv oder passiv zu vermeiden oder sie zu überkompensieren. Als Reaktion auf die Schemata entwickelt das Kind dann bestimmte Verhaltensmodi, mit denen das Kind auf die Schemata reagiert. Es entstehen sogenannte Kindmodi, innere Elternmodi sowie verschiedene Bewältigungsmodi die aus dem Erdulden, dem Vermeiden oder dem Überkompensieren hervorgehen. Diese Modi bleiben dann wie „Autopiloten“ bis ins Erwachsenenalter bestehen. Wenn in einer solchen Schemaaktivierung Gefühle erlebt werden, kann der der Betroffene in einer solchen Situation als „zu stark“ erleben, da ein Großteil der Gefühle, die dabei aufkommen, „alte“ Gefühle sind. Oder aber der Betroffene spürt die Gefühle „zu schwach“. möglicherweise gar nicht. Dabei bemerkt der Betroffene nicht, dass er als Erwachsener andere, gesündere Reaktionsmöglichkeiten hätte. Nämlich, wie die Schematherapie es nennt, den Modus des „gesunden Erwachsenen“. Prinzipiell bestehen alle Modi gleichzeitig, nur in unterschiedlicher Ausprägung, auch bei Menschen ohne psychische Störungen, nur dass dann die Modi des „glücklichen Kindes und des „gesunden Erwachsenen“ dominieren. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Auto auf eine Autobahn auf. Sie beschleunigen, reihen sich ein und bei Tempo hundert schalten Sie unbewusst statt in den fünften, in den dritten Gang. Angenommen das Auto hat keinen Drehzahlbegrenzer: was passiert? Der Motor heult auf, die Drehzahl steigt in den roten Bereich. Ihr Beifahrer erschrickt sich vermutlich, lacht sie aus oder denkt sich „Der kann ja nicht Autofahren“. Und wenn es ganz blöd läuft, dann fliegt ihnen der ganze Motor samt Ventrikel und Pleuel um die Ohren. Oder aber sie sind in einer Stadt mit verwinkelten Straßen unterwegs und fahren untertourig. Dann säuft Ihnen der Motor ständig ab.
Ein strukturiertes Therapiekonzept in mehreren Phasen
Die Schematherapie ist so strukturiert, die „ungesunden“ Schemata und Modi zunächst zu erkennen und zu benennen, durch verschiedene emotionsaktivierende Techniken dann die „alten Gefühle“ hochzuholen und im therapeutischen Setting noch einmal zu durchleben. Schließlich geht es darum, das Erleben und Verhalten zu verändern, das heißt, in den Modus des „gesunden Erwachsenen“ zu überführen. Das klingt zwar etwas kompliziert, für den Patienten ist das Modell allerdings sehr eingängig. Bei Andreas Blume ist schnell klar, welche Modi bei ihm im Vordergrund stehen. Aus seiner Kindheit besteht eine schmerzhafte Vaterproblematik. Sein Vater hatte ihn stets abgelehnt und abgewertet, nur Leistung mache den Wert eines Menschen aus. Besonders wertete der Vater ihn jedoch wegen seiner Homosexualität ab. Andreas Blume war erst 22 Jahre alt, als sein Vater starb. Die Stimme des Vaters blieb jedoch quicklebendig: in Andreas Blumes Kopf. Schematherapeutisch beleuchtet, wurden bei ihm alle Grundbedürfnisse durch den Vater von klein auf frustriert. Dadurch entstanden verschiedene Schemata und daraus resultierende Modi. Besonders aktiv sind bei Andreas Blume die beiden inneren Elternmodi nämlich der sogenannte „innere Antreiber“, der durch stark fordernde Eltern hervorgerufen wird und der „innere Bestrafer“, der auf strafende Eltern zurückgeht. Der innere Antreiber trieb Andreas Blume stets zu Höchstleistungen an, während der innere Bestrafer gleichzeitig jedes aufkommende Selbstwertgefühl drückte. Warum Andreas nun in eine erneute schwere depressive Episode gefallen war, wird durch die Erkenntnisse aus der Schematherapie sehr schnell klar: sein beruflicher Mentor war für Blume ein echter Ersatzvater gewesen. Der Bruch dieser Beziehung reproduzierte somit die Problematik mit seinem leiblichen Vater. Blumes Selbstwertgefühl brach so stark zusammen, dass er jeden Halt verlor. „Ich habe mich total elend gefühlt“, sagt er heute.
Eine vertrauensvolle Therapeut-Patienten-Beziehung als Grundlage für den Therapieerfolg
Was die Schematherapie von den anderen bewährten Therapiemethoden unterscheidet ist eine besonders vertrauensvolle Beziehungsgestaltung. Der Therapeut nimmt zunächst die Rolle eines „guten Elternteils“ für den Patienten ein und fungiert als „Anwalt“ des verletzten Kindes. In der Fachsprache nennt man das „Nachbeelterung“. Im Laufe der Therapie versucht der Therapeut dann, den Patienten gefühlvoll und empathisch mit seinen dysfunktionalen Anteilen zu konfrontieren, die sogenannte „empathische Konfrontation“. Gegen Ende der Therapie ist das Ziel, dass der Patient diese guten Elternteile verinnerlichen und dann selbstständig, ohne die Unterstützung des Therapeuten abrufen kann. Der Ablauf einer Schematherapie ist sehr strukturiert. Durch eine ausführliche biografische Anamnese werden zunächst die beim Patienten vorherrschenden Schemata und Modi identifiziert und niedergeschrieben. Die Emotionsaktivierung, in der der Patient seine kindliche Gefühlswelt nacherleben und verarbeiten soll, ist dann der Schlüssel, um an den Modi zu arbeiten und Zugang zu den Bedürfnissen zu erhalten. Die Verarbeitung kann durch verschiedene emotionsaktivierende Techniken, die diversen anderen Verfahren entlehnt sind, erzeugt werden. Bei Andreas Blume geschah dies durch eine sogenannte „Stühle-Arbeit“ in einer Gruppentherapie, eine Methode aus der Gestalttherapie. Hierbei setzt sich der Patient auf einen Stuhl, gegenwärtige und Kindheitssituationen werden besprochen und sobald ein neuer Modus auftaucht, wird ein neuer Stuhl dazu gestellt. Wenn sich der Patient dann auf den anderen Stuhl setzt, spürt er die Gefühle dieses Anteils in ihm meist sehr stark. Andreas Blume beschreibt dieses Erlebnis als frappierend: „In dem Moment, in dem man auf dem Stuhl sitzt, überfallen einen die Gefühle und Gedanken dieses Anteils und man fühlt sich völlig so wie damals. Es war sehr eindrücklich zu erleben, wie stark diese Gefühle sind und wie groß der Schmerz ist, den man eigentlich nie spüren durfte. Plötzlich kriegt der Schmerz Platz und die Gruppe erlebt und spürt diese schwere Gefühlmit dir. Das ist gleichzeitig eine sehr tragende Erfahrung.“
Schwere Therapiearbeit die sich lohnt
Die Emotionsaktivierung ist für den Patienten zunächst zwar sehr belastend. „Ich hatte nach der Gruppensitzung das Gefühl, ich käme aus einem Steinbruch.“, beschreibt Andreas Blume heute. Deswegen ist es wichtig, dass der Patient danach vom Therapeuten aufgefangen wird. Die emotionale Aktivierung ermöglicht schließlich die Arbeit an den entsprechenden Modi und deren Modifizierung. Es geht ja dann darum, die alten Modi in den Modus des „gesunden Erwachsenen“ zu überführen. Der Patient lernt dabei, dass es alternative, gesündere Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten gibt, wenn in Zukunft wieder einmal ein altes Schema aktiviert wird. Schließlich muss das neu erlernte Verhalten auch eingeübt und beibehalten werden. Dazu stehen verschiedene Techniken zur Verfügung z.B. werden Alltagssituationen besprochen, die Probleme machen und alternatives Verhalten wird durch fiktive Dialoge auf Stühlen eingeübt“. Das Ziel der Therapie ist es, dass der Patient schließlich selbstständig dazu in der Lage ist, entsprechende Reaktionsmuster bei bestimmten Schemaaktivierungen als „gesunder Erwachsener“ zu begegnen, ohne dass sich alte Kindheitsgefühle dazu mischen. Somit ist der Patient in der Lage, sein Leben freier zu gestalten und zwischenmenschliche Konflikte als weniger belastend zu empfinden und besser zu bewältigen.
Vielversprechende Erfolge belegen die Wirksamkeit der Therapie
Andreas Blume geht es heute gut. Ihm ist eine berufliche Wiedereingliederung gelungen, er hat einen neuen Partner gefunden, und möchte demnächst sogar heiraten. Er hat viel Handwerkszeug aus seiner Therapie mitgenommen. Bildlich gesprochen hat Andreas Blume beim Autofahren also besser schalten gelernt, und sein Auto zur Sicherheit mit einem Drehzahlbegrenzer nachgerüstet. Dennoch setzt er die Therapie am Max-Planck Institut bislang noch ambulant fort, wenn auch in selteneren Abständen. „Man fällt auch immer wieder in das alte Fahrwasser zurück“ sagt Blume. Das Internalisieren des Erlernten bleibt also ein schwieriger und wichtiger Teil der Therapie und es gibt neben den Fortschritten auch immer wieder Rückschritte. Dr. Samy Egli, leitender Psychologe des Instituts, erklärt dazu: „Es geht nicht darum, dass der Schmerz weg ist, der wird immer da sein, aber er ist nicht mehr so bedrohlich und vernichtend. Das Modell hilft dabei anzuerkennen, dass ein Teil des Schmerzes bleibt. Aber wenn man lernt damit umzugehen, muss er nicht mehr lebensbestimmend sein.“ Andreas Blumes Fazit zur Schematherapie ist durchweg positiv. Er sagt: „Es bleibt zwar ein täglicher Kampf, aber es lohnt sich!“
Die Schematherapie in Wissenschaft und Forschung
Auch der Chefarzt der Klinik des MPI Prof. Dr. Martin Keck lobt die Schematherapie: „Sie vereint sozusagen alles das, was wirkt“. Wissenschaftlich ist die Wirksamkeit der Schematherapie bislang allerdings fast ausschließlich bei Persönlichkeitsstörungen nachgewiesen. Prof. Keck beschreibt jedoch: „Wir haben beobachtet, dass die Schematherapie auch bei Depressionspatienten äußerst wirksam ist.“ Das Max-Planck-Institut führt nun die weltweit größte Psychotherapiestudie durch (OPTIMA-Studie), die, angelegt auf viele Jahre und eine große Anzahl von Probanden die Wirksamkeit der die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie, der Schematherapie und der individuell supportiven Therapie vergleicht und auf biologischer, genetischer und neurobiologischer Ebene untersucht. „Das Ziel ist, dass wir eines Tages das individuelle Profil eines Patienten erstellen und daraus vorhersagen können, was bei wem am besten wirkt.“ so Keck. Eine solche Vorhersage könnte Depressionspatienten in Zukunft sehr viel Leid ersparen.
Haben wir ihr Interesse geweckt?
In München bietet die Schematherapie das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in Klinik, Tagesklinik und Ambulanz an. (www.psych.mpg.de).
Informationen über die Psychotherapiestudie OPTIMA finden Sie unter www.professorkeck.de/psychotherapiestudie
Wenn Sie einen niedergelassenen Schematherapeuten suchen, können Sie sich am Institut für Schematherapie München (IST-M) erkundigen. (www.schematherapie-muenchen.de)
Buchtipp:
„Raus aus den Lebensfallen – Das Schematherapie-Patientenbuch„, Eckhard Roediger, Junfermann-Verlag, 2. überarbeitete Auflage, 2015, Taschenbuch, 148 Seiten, €15,00, ISBN-13: 978-3955714048
Dieser Artikel entstand im Rahmen des Zeitungsprojektes „Munich Fights Depression“ des Münchner Bündnis gegen Depression anlässlich des 10-jährigen Vereinsjubiläums. Die Autorin ist Teil des Redaktionsteams. Der attitudeblog ist Sponsor des Projekts. Die PDF-Datei der ganzen Zeitschrift finden sie hier.