„Die Welt im Rücken“ von Thomas Melle

„Die Krankheit hat mir meine Heimat genommen“

Thomas Melle erzählt in „Die Welt im Rücken“ von seiner bipolaren Erkrankung, an der er seit vielen Jahren leidet. Fast wäre er daran zugrunde gegangen.

Wie sehr eine bipolare Störung , treffender und eindringlicher bezeichnet mit dem früheren Begriff manisch-depressiv, einen Menschen straucheln, ja regelrecht aus der Welt rücken lässt, beschreibt Thomas Melle in seinem Buch „Die Welt im Rücken“. Und es ist nicht irgendeine Fiktion, die da erzählt wird und die man vielleicht für übertrieben halten könnte. Es sind die ureigenen Erfahrungen, die der Autor, selbst von einer besonders schweren Form der Krankheit betroffen, in seinem Text schildert.

Aus der Binnenperspektive gibt Melle einen eindringlichen Einblick in die Welt der manisch-depressiven Identität. Es beginnt stets mit einer manischen Phase, der sich eine depressive Episode anschließt, gefolgt von einer symptomfreien Phase. So auch bei Melle, dessen Episoden von Mal zu Mal immer länger andauern und schwerer verlaufen. Von Großartigkeitsphantasien getrieben, mit viel Alkohol geputscht, zieht Melle durch Berlin, bezieht in seiner paranoiden Psychose alles auf sich, von Texten im Internet, die codiert scheinen und auf ihn abzielen bis hin zur Stadt mit ihren Bewohnern selbst, die sich ver-rückt zeigt. Aber in Wahrheit ist es Melle selbst, der im wahrsten Sinne des Wortes verrückt ist, aus der Welt gefallen, aber gleichzeitig mitten drin.

An diese erste manische schließt sich die depressive Phase an, erst jetzt ist der Autor bereit  ärztliche Hilfe zuzulassen, begibt sich in die Klinik, aus der er sich in seinem manischen Wahn zuvor immer wieder selbst entlassen hat. Der Höhenflug ist vorbei, zu der depressiven Leere, dem Nichts, dem nicht wollen können, kommt die Scham über das in der Manie Geschehene und zieht Melle noch mehr in die Tiefe.

Diesem ersten Schub mit Anfang 20 schließen sich noch zwei weitere manisch-depressive Phasen an, die jeweiligen Stationen der Pathogenese wiederholen sich, Dauer und Intensität nehmen zu. Irgendwann, am Ende des dritten Krankheitsschubs, wird Melle hochverschuldet sein, seine Wohnung verloren haben und auch die meisten seiner Freunde. Er sieht sich, einsam und obdachlos, konfrontiert mit Gerichtsprozessen und hat sich in der Manie so manche Feindschaft zugezogen. Am Ende liegt sein Leben in einem Scherbenhaufen und ohne Fundament vor ihm. Er hat die Krankheitsschübe mitsamt Suizidversuchen überlebt, sozial aber ist Melle ganz unten angekommen.

„Wenn Sie manisch-depressiv sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Was sich vorher als mehr oder minder durchgängige Geschichte erzählte, zerfällt rückblickend zu unverbundenen Flächen und Fragmenten. Die Krankheit hat Ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft. Mit jeder manischen Episode wird Ihr Leben, wie Sie es kannten, weiter verunmöglicht. Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr. Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein“

Mit schonungsloser Offenheit schildert Melle die zerstörerische Kraft von Manie und Depression; beschreibt wie sich die Krankheit seiner bemächtigt und sein Leben von Grund auf vereinnahmt: „Die Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist die Krankheit meine Heimat.“ Dabei schont er sich nicht, gibt alles Preis und zieht den Leser mit sprachlicher Wucht regelrecht mit hinein in seine Krankheitsgeschichte. „Die Welt im Rücken“ ist keine einfache Lektüre. Aber für den, der bereit ist, sich darauf einzulassen, eine ungeheuer bereichernde.

978-3-499-27294-3

Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rowohlt Berlin, 352 Seiten, 19,95 Euro

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