Der ehemalige Präsident der bosnischen Serben Radovan Karadzic wurde am vergangene Woche am 20. März 2019 in Den Haag vor dem Un-Kriegsverbrechertribunal in letzter Instanz zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht befand ihn schuldig des Völkermordes, der Kriegsverbrechen sowie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Balkankrieges in den Neunzigerjahren, schuldig des Mordes, der Verfolgung und Zwangsvertreibung bosnischer Muslime. Zudem trage er die Verantwortung für die 44 Monate andauernde Belagerung der bosnischen Stadt Sarajevo sowie den Völkermord von Srebrenica, das schlimmste Massaker auf europäischem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg.
In erster Instanz war Radovan Karadzic vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag 2016 zu 40 Jahren Haft verurteilt worden. Beide Parteien legten Berufung ein. Karadzic hatte während des Prozesses immer wieder seine Unschuld beteuert. Die Vorwürfe seien „haltlos“, er sein kein Kriegstreiber, sondern im Gegenteil der „Friedenstifter des Balkans“ gewesen, und Freispruch gefordert. Im Berufungsverfahren beriefen sich seine Verteidiger hauptsächlich auf Verfahrensfehler, die das Gericht nun zurückwies. Der Anklage ging das Urteil nicht weit genug. Sie hatte eine lebenslange Strafe gefordert und wollte, dass auch die Verfolgung von Muslimen in bosnischen Kommunen als Völkermord eingestuft wird. Das aber lehnten die Richter ab.
In seiner Zusammenfassung begründete der Vorsitzende der Strafkammer, der dänische Richter Vagn Prüsse Joensen, das Urteil unter anderem mit der „außerordentlichen Brutalität und herausragenden Schwere der Taten“. Die Beweise für die Verbrechen, darunter tausendfachen Mord, waren erdrückend. Im Fall des Massakers von Srebrenica im Juli 1995, wurden über 8000 muslimische Jungen und Männer ermordet, während der Belagerung von Sarajevo starben mehr als 10.000 Menschen, darunter 1600 Kinder, durch serbischen Artilleriebeschuss und Scharfschützen.
Karadzic zeigte sich von seinem Urteil unberührt. Auf der Zuschauertribüne, darunter Überlebende und Opferverbände allerdings, brach Jubel aus. Für den 73-Jährigen hat die Verschärfung des Strafmaßes von 40 Jahren zu lebenslang zwar praktisch wenig Bedeutung, dennoch trägt es wichtigen symbolischen Charakter. Das Berufungsverfahren war vom sogenannten Residualmechanismus für UN-Tribunale verhandelt worden, der Nachfolge-Organisation der Kriegsverbrechertribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda.
Mit dem Urteil geht nach fast zehn Jahren der wohl wichtigste Prozess des Tribunals für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien zu Ende. Karadzic ist der höchste noch lebende politische Verantwortliche für die Verbrechen der Bosnienkriege 1992 bis 1995. Karadzic war erst 2008 nach 13 Jahren auf der Flucht in Serbien als alternativer Heiler entdeckt und an das Gericht ausgeliefert worden. Viele bosnische Serben feiern Karadzic bis heute noch als Helden, teilweise sogar als mythische Figur der serbischen Geschichte. In welchem europäischen Land Karadzic seine Strafe verbüßen muss, ist noch unklar.
Die juristische Aufarbeitung der Balkan-Kriege durch die internationale Justiz ist nun beinahe beendet. Das Berufungsurteil gegen Mladić steht noch aus, gegen mehr als 160 Beschuldigte haben die UN aber bereits ihre Verfahren zu Ende geführt. Einige endeten mit Freisprüchen, viele mit hohen Haftstrafen. Einige Verfahren konnten nicht zu Ende geführt werden, weil die Angeklagten noch während des Prozesses verstarben, darunter auch Slobodan Milosevic.
Hintergrund:
Radovan Karadžić
Karadžić war von 1990 bis 1992 Parlamentspräsident der Sozialistischen Republik Bosnien und Herzegowina und von 1992 bis 1996 Präsident der serbischen Teilrepublik von Bosnien und Herzegowina. Im Zusammenhang mit dem Bosnienkrieg lag seit 1996 ein internationaler Haftbefehl des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gegen ihn vor, der am 21. Juli 2008 zu seiner Festnahme in Belgrad führte. Das Haager Tribunal warf ihm vor, während seiner Amtszeit als Präsident Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit befohlen zu haben.
Psychiater, Poet und Schriftsteller
Radovan Karadžić entstammt einer Familie, deren Mitglieder im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Tschetniks kämpften. Als 15-Jähriger zog er 1960 mit Eltern und Geschwistern nach Sarajevo. Dort machte er später Abitur und nahm ein Medizinstudium auf, das er 1971 als Doktor der Medizin abschloss. Anschließend war er als Psychiater tätig, zunächst im Krankenhaus von Sarajevo. 1974/75 verbrachte er nach Weiterbildungsaufenthalten in Zagreb und Belgrad auch ein Postgraduate-Studienjahr an der Columbia University, New York. Nach seiner Rückkehr gründete er eine eigene Praxis im 20 Kilometer östlich von Sarajevo gelegenen Pale und spezialisierte sich auf Gruppentherapie und Gruppenanalyse in seinem Fachgebiet Neurosen und Depressionen.
Präsident der serbischen Republik in Bosnien
Nach dem Ende des Einparteiensystems in Jugoslawien gründete Jovan Rašković im Juli 1990 die Serbische Demokratische Partei (SDS) in Bosnien-Herzegowina. Nachdem mehrere politisch profilierte Persönlichkeiten abgesagt hatten, wurde Karadžić deren erster Vorsitzender. Bei den ersten freien Wahlen in Bosnien-Herzegowina am 18. November und 2. Dezember 1990 errang die SDS unter seiner Führung 72 der 240 Sitze der ersten Kammer des bosnischen Parlaments und wurde damit zweitstärkste Fraktion. Mit seinen Schriften und Reden versuchte Karadžić das Feindbild, das manche Serben von den Osmanen als einstigen Herrschern in Südosteuropa hatten, auf die (ebenfalls muslimischen) Bosniaken zu übertragen.
Am 9. Januar 1992 wurde dann die Serbische Republik Bosnien-Herzegowina (später umbenannt in Republika Srpska, etwa: „Serbische Republik“) gegründet, deren erster Präsident Radovan Karadžić war. Am 25. Januar 1992 wurde im bosnischen Parlament eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit beschlossen. Dies wurde von Karadžić als „Kriegserklärung an die Serben“ bezeichnet.
Krieg und Kriegsverbrechen
Nach der Ausrufung der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas am 3. März 1992 brachen in ganz Bosnien Kämpfe aus. Bis zum Dezember 1992 gelang es den bosnischen Serben unter Karadžićs Präsidentschaft und der militärischen Führung von Ratko Mladić mit Unterstützung Serbiens 70 Prozent des Gebiets von Bosnien-Herzegowina unter ihre Kontrolle zu bringen sowie die Hauptstadt Sarajevo permanent zu belagern. Karadžić wird beschuldigt, die dabei vorgenommenen sogenannten „ethnischen Säuberungen“ und Übergriffe auf bosniakische und kroatische Zivilisten geplant und befohlen zu haben.
In den beiden folgenden Jahren kam es zu keiner wesentlichen Veränderung der Situation. Zwar gab es einige internationale Bemühungen, zu einer Friedenslösung zu kommen und es wurden UN-Schutzzonen für eingekesselte Städte wie Srebrenica und Goražde eingerichtet. Aber besonders die Maximalforderungen der bosnischen Serben unter Karadžić verhinderten den Abschluss eines Friedensvertrages.
Das Massaker von Srebrenica
Erst 1995 gab es wieder substanzielle Bewegungen. Nach einigen militärischen Rückschlägen und dem Ende eines vereinbarten viermonatigen Waffenstillstands ordnete Karadžić am 27. März 1995 die totale Mobilmachung in der Republika Srpska an. Im Mai gelang es Kroatien mit westlicher Unterstützung, große Teile des bis dahin von Serben gehaltenen Gebiets West-Slawonien unter seine Kontrolle zu bringen. Daraufhin begannen die bosnischen Serben damit, UN-Soldaten der UNPROFOR-Einheiten als Geiseln zu nehmen. Zeitweise befanden sich über 300 von ihnen in der Gewalt der Serben. Auf Befehl Karadžićs nahmen serbische Truppen unter Ratko Mladić am 11. Juli 1995 die UN-Schutzzone Srebrenica ein, in der sich über 40.000 bosnische Flüchtlingen aufhielten. Die niederländischen UN-Truppen der Einheit Dutchbat unter Thomas Karremans leisteten keinen Widerstand. Während Mladićs Truppen die muslimischen Frauen und Kinder in Richtung Tuzla vertrieben, ermordeten sie den größten Teil der männlichen Bevölkerung, über 8000 Menschen. Am 20. Juli erlitt die Stadt Žepa ein ähnliches Schicksal. Dort wurden alle Einwohner vertrieben.
Rücktritt als Präsident der „Republika Srpska“
Aufgrund der zunehmenden Landgewinne der kroatischen, aber auch der bosnischen Truppen musste Karadžić schließlich hinnehmen, dass die weiteren Friedensverhandlungen nicht mit ihm, sondern direkt mit den Präsidenten Bosnien-Herzegowinas, Serbiens und Kroatiens, Izetbegović, Milošević und Tuđman, geführt wurden. Diese endeten am 21. November in Dayton mit einem Friedensabkommen. Es gestand der nun so genannten Republika Srpska 49 Prozent des Territoriums von Bosnien-Herzegowina zu. Dazu mussten diese zwischenzeitlich eroberten Gebiete wie Ilidža und Sarajevo-Grbavica, die bis dahin von bosnischen Serben bewohnt wurden, an die Bosniakisch-Kroatische Föderation abgetreten werden. Aufgrund des anhaltenden internationalen Drucks musste Karadžić am 30. Juni 1996 als Präsident der Republika Srpska zurücktreten.
Internationaler Haftbefehl und Tarnidentität als Alternativmediziner in Belgrad
Nachdem Sarajevo am 9. April 1995 von serbischen Truppen schwer beschossen worden war, gab das UN-Kriegsverbrechertribunal am 24. April bekannt, dass es gegen Radovan Karadžić und Ratko Mladić ermittelt. Am 14. November reichte es eine erweiterte Anklageschrift ein, am 11. Juli 1996 erließ es einen internationalen Haftbefehl mit den Vorwürfen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Vertreibung, Mord, Folter) und Verstöße gegen das Kriegsrecht. Daraufhin tauchten beide unter.
In den Folgejahren gab es immer wieder einzelne, teils halbherzige Bemühungen, die nunmehr untergetauchten Karadžić und Mladić ausfindig zu machen und zu verhaften, aber auch durch die Unterstützung von Regierungsbeamten der Republika Srpska und zunächst wohl auch seitens Miloševićs konnten sie sich immer wieder dem Zugriff entziehen. Dies auch, weil sie möglicherweise von Teilen der Bevölkerung besonders im Osten Bosniens gedeckt wurden. Auch eine von den Vereinigten Staaten ausgerufene Belohnung von jeweils fünf Millionen US-Dollar für Hinweise zur Verhaftung von Karadžić und Mladić hatten nicht zu deren Festnahme geführt. Erst im Juni 2004 gab es ernsthafte Anzeichen, dass der internationale Bosnien-Beauftragte Paddy Ashdown mit Hilfe der inzwischen in SFOR (Stabilization Force) umbenannten NATO-Truppe Karadžić zu finden und zu verhaften gedachte. Dazu setzte er am 30. Juni des Jahres 59 Amtsträger der Republika Srpska (unter anderen den SDS-Vorsitzenden Dragan Kalinić) ab, die im Verdacht standen, Karadžić zu decken und ihn weiterhin logistisch und finanziell zu unterstützen. Ende Juli 2005 appellierte Karadžićs Ehefrau Ljiljana Zelen-Karadžić im bosnischen und serbischen Fernsehen an ihren Mann, sich freiwillig dem ICTY zu stellen. Als Gründe hierfür gab sie den „permanenten Druck von allen Seiten“ an.
Festnahme und Auslieferung nach Den Haag
Am Abend des 21. Juli 2008 verkündete das serbische Präsidialamt schließlich die Festnahme Karadžićs in Serbien. Nach Angaben serbischer Ermittler habe er vor seiner Festnahme unter falscher Identität und mit stark verändertem äußeren Erscheinungsbild als „Dragan David Dabić“ unbehelligt in Belgrad gelebt und in einer Arztpraxis als „Alternativmediziner“ gearbeitet. Der echte Dragan Dabić arbeitete als Bauer und Bauarbeiter in Ruma. Karadžić war an dessen Papiere gelangt und lebte bis zu seiner Festnahme unter falscher Identität. Zunächst war er in Belgrad inhaftiert; sein Anwalt hatte eine Beschwerde gegen die Auslieferung an das Haager Tribunal angekündigt, diese dann aber nicht eingelegt. Seit den Morgenstunden des 30. Juli 2008 befand sich Karadžić in der United Nations Detention Unit, der Untersuchungshaftanstalt des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien im Den Haager Stadtteil Scheveningen.
Prozess
Am 31. Juli 2008 erschien er zur ersten Einvernahme vor dem Haager Tribunal auf eigenen Wunsch ohne Strafverteidiger. Am 26. Oktober 2009 begann der Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag ohne den Angeklagten Karadžić. Zum ersten Mal im Laufe des Prozesses äußerte sich Karadžić am 1. März 2010. Er wies jegliche Schuld am Bosnienkrieg von sich. Die bosnischen Serben hätten sich nur gegen islamische Fundamentalisten verteidigt, die Bosnien nach dem Zerfall Jugoslawiens für sich beanspruchen wollten.
Das Gericht schloss die Beweisaufnahme am 4. Mai 2012 ab. Am 28. Juni 2012 sprach es Karadžić in einem von insgesamt elf Anklagepunkten, dem Völkermord in bosnischen Gemeinden, frei. Zwei Wochen vor diesem Zwischenurteil forderte er in Den Haag seinen Freispruch in allen elf Anklagepunkten. Im Verlauf des Prozesses wurden ihm noch zehn weitere Verbrechen angelastet. Er blieb unter anderem für das Massaker an muslimischen Jungen und Männern in Srebrenica wegen Völkermordes sowie in neun weiteren Punkten wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weiterhin angeklagt.
Karadžić, der sich auf eigenen Wunsch selbst verteidigte, bezeichnete sich selbst vor dem UNO-Tribunal als einen „milden und toleranten Menschen“ und präsentierte sich als „Friedenstifter“. Er habe alles Mögliche getan, um diesen Krieg zu vermeiden, und er habe außerdem auch die Zahl der Opfer verringert. Er sagte, dass er „statt hier als Angeklagter zu erscheinen, (für die Bemühungen) ausgezeichnet werden“ sollte. Karadžić wies auch abermals jegliche Schuld am Massaker von Srebrenica von sich; er habe befohlen, diese Bewohner zu schützen und er wisse nichts von diesem dort geschehenen Völkermord. Er habe nur einen militärischen Einsatz gegen islamische Kämpfer befohlen. Des Weiteren beteuerte er auch seine Unschuld an der jahrelangen Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo, der 10.000 Menschen zum Opfer fielen. Die Moslems bzw. Bosniaken hätten vielmehr „schamlos“ Angriffe inszeniert, um somit ein internationales Eingreifen zu ihren Gunsten und gegen die Serben zu erreichen.
Urteil
Im Juli 2013 hob das UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien den Teilfreispruch von 2012 auf. Am 24. März 2016 sprach ihn das Tribunal für Kriegsverbrechen bei der Belagerung Sarajevos, Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Teilen Bosniens und für den Völkermord in Srebrenica mit 8000 Toten schuldig und verurteilte ihn zu insgesamt 40 Jahren Haft. Sowohl Karadžić als auch die Ankläger legten Berufung ein. Im Berufungsverfahren wurde er am 20. März 2019 unanfechtbar zu lebenslanger Haft verurteilt.
Links:
Bericht der Tagesschau vom 20. März 2019 – ARD:
Lebenslange Haft für Karadzic
Dokumentation des britischen Journalisten Rageeh Omaar über Karadzics Leben getarnt als Dr. Dabic auf al Jazeera (Englisch):
The Rageh Omaar report – The Secret Life of Radovan Karadzic
Presse:
UN-Tribunal zu Karadzic: Jubel beim Urteil „lebenslang“ – Tagesschau.de
UN-Tribunal: Karadžić muss lebenslang in Haft – SZ-Online
UN-Tribunal: Radovan Karadžić zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt – ZeitOnline
Titelbild: CC BY 2.0 via Wikimedia Commons