Gedicht der Woche: „Am Turme“ von Annette von Droste-Hülshoff

Am Turme

Ich steh‘ auf hohem Balkone am Turm, 
Umstrichen vom schreienden Stare, 
Und lass‘ gleich einer Mänade den Sturm 
Mir wühlen im flatternden Haare; 
O wilder Geselle, o toller Fant, 
Ich möchte dich kräftig umschlingen, 
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand 
Auf Tod und Leben dann ringen!

Und drunten seh‘ ich am Strand, so frisch 
Wie spielende Doggen, die Wellen 
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch 
Und glänzende Flocken schnellen. 
O, springen möcht‘ ich hinein alsbald, 
Recht in die tobende Meute, 
Und jagen durch den korallenen Wald 
Das Walroß, die lustige Beute!

Und drüben seh‘ ich ein Wimpel wehn 
So keck wie ein Standarte, 
Seh‘ auf und nieder den Kiel sich drehn 
Von meiner luftigen Warte; 
O, sitzen möcht‘ ich im kämpfenden Schiff, 
Das Steuerruder ergreifen 
Und zischend über das brandende Riff 
Wie eine Seemöve streifen.

Wär‘ ich ein Jäger auf freier Flur, 
Ein Stück nur von einem Soldaten, 
Wär‘ ich ein Mann doch mindestens nur, 
So würde der Himmel mir raten; 
Nun muß ich sitzen so fein und klar, 
Gleich einem artigen Kinde, 
Und darf nur heimlich lösen mein Haar 
Und lassen es flattern im Winde!

Annette von Droste-Hülshoff

avdh

 

 

 

 

 

 

 

Annette von Droste-Hülshoff (* 12. Januar 1797[1][2][3], nach anderen Quellen 10. Januar 1797, auf Burg Hülshoff bei Münster als Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff; † 24. Mai 1848 auf der Burg Meersburg in Meersburg) war eine deutsche Schriftstellerin und Komponistin. Sie gilt als eine der bedeutendsten deutschen Dichterinnen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s