Gedicht der Woche: „Je vis, je meurs“ („Ich leb, ich sterb“) von Louise Labé

Je vis, je meurs

Je vis, je meurs: je me brule et me noye.
J’ay chaut estreme en endurant froidure:
La vie m’est et trop molle et trop dure.
J’ay grans ennuis entremeslez de joye:

Tout en un coup je ris et je larmoye,
Et en plaisir maint grief tourment j’endure:
Mon bien s’en va, et à jamais il dure:
Tout en un coup je seiche et je verdoye.

Ainsi Amour inconstamment me meine:
Et quand je pense avoir plus de douleur,
Sans y penser je me treuve hors de peine.

Puis quand je croy ma joye estre certeine,
Et estre au haut de mon desiré heur,
Il me remet en mon premier malheur.

Louise Labé (1525-1566)

Ich leb, ich sterb

Ich leb, ich sterb: ich brenn und ich ertrinke,
ich dulde Glut und bin doch wie im Eise;
mein Leben übertreibt die harte Weise
und die verwöhnende und mischt das Linke

mir mit dem Rechten, Tränen und Gelächter.
Ganz im Vergnügen find ich Stellen Leides,
was ich besitz, geht hin und wird doch echter:
ich dörr in einem und ich grüne, beides.

So nimmt der Gott mich her und hin. Und wenn
ich manchmal mein, nun wird der Schmerz am größten,
fühl ich mich plötzlich ganz gestillt und leicht.

Und glaub ich dann, ein Dasein sei erreicht,
reißt er mich nieder aus dem schon Erlösten
in eine Trübsal, die ich wiederkenn.

Louise Labé (übersetzt von Rainer Maria Rilke)

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