+++Triggerwarnung+++ Dieser Dokumentarfilm zeigt Menschen, die über eigene Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs innerhalb ihrer Familie sprechen und kann triggern!
In Deutschland erfährt jedes siebte Kind sexuelle Gewalt. Besonders häufig stammt der Täter aus der eigenen Familie oder dem familiären Umfeld. Der Hort des Vertrauens wird zur Gefahr.
37° – „Das dunkle Geheimnis – Missbrauch in der Familie“ in der ZDF-Mediathek
Irgendwann bricht das Verdrängte hervor
Bei Urte war es der Großvater, bei Johanna der Vater, bei Anne die eigene Mutter. Sie verboten den Kindern, darüber zu sprechen, und gaben ihnen das Gefühl, dass sie selbst schuld daran sind, warum dieses Unaussprechliche immer wieder mit ihnen gemacht wurde.
Die Menschen, die die Kinder liebten, zwangen sie zu Dingen, für die die Kinder nicht einmal Worte hatten. Urte, Johanna und Anne konnten ihre Kindheit nur überleben, indem sie die schrecklichen Erlebnisse aus dem Bewusstsein verdrängten, abspalteten. Doch die erlittene Ohnmacht und Pein lässt sich nicht für immer wegschließen. Irgendwann später bricht das Verdrängte hervor.
Eine Kindheit, die es nie gab
Es hat sie jahrelange Schwerstarbeit gekostet, sich ihrem Leid und ihrem Schmerz zu stellen. Sie haben es geschafft, das Schweigen zu brechen, das ihnen die Täter auferlegt hatten. Mit Hilfe von Therapien konnten sie anfangen, ihre Kindheit zu betrauern – eine Kindheit, die es für sie nie gab. Für die „37 Grad“-Sendung hatten sie den Mut, ihre Geschichte zu erzählen.
Anne, Urte und Johanna leben heute ein gutes Leben, auch wenn das, was sie in der Kindheit erlitten haben, immer schmerzvoller Teil ihres Lebens bleiben wird. Doch sie haben gelernt, damit zu leben, so wie Anne sagt: „Ich habe jetzt gelernt, den Rucksack so zu packen, dass ich ihn tragen kann!“
Die Autorin Mechtild über ihren Film
Ich hatte über die erschreckend hohen Zahlen von Kindesmissbrauch gelesen: jedes siebte Kind sei davon betroffen, rein rechnerisch gesehen ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse. Was mich aber zutiefst erschreckt hat ist, dass die Mehrzahl der Übergriffe in der eigenen Familie und dem familiären Umfeld stattfinden – davon circa zwei Drittel auf Mädchen, ein Drittel auf Jungen. Wenn ich fortan durch die Straßen ging oder in der Bahn saß, habe ich mich oft gefragt, wer von den Anwesenden wohl dieses Leid erlebt hat. Ich selbst kannte keine Person, so glaubte ich damals zumindest, denn niemand im Freundeskreis hatte je darüber gesprochen. Ein Irrtum, wie ich heute weiß.
Ich begann nach betroffenen Frauen und Männern zu suchen, die bereit waren darüber zu sprechen, wie diese Erfahrung ihr Leben geprägt hat. Es war ein äußerst mühseliges Unterfangen. Auf meine vielfältigen Versuche hatten sich zwar einige Frauen und auch ein Mann gemeldet, aber sie wollten mit ihrer Geschichte nicht öffentlich werden. Sie fühlten sich ‚gebrandmarkt‘ durch das erlittene Leid und schämten sich für das, was ihnen angetan wurde. Bei allen bestand eine große Angst vor den Reaktionen der Öffentlichkeit – der Verwandtschaft, der Freunde, der Kollegen! Ich lernte, wie massiv das Gebot des Schweigens, wie groß das Tabu des darüber Sprechens ist. Nach einem Jahr war ich soweit, das Projekt aufzugeben. Zufällig hörte mein Mann eine Sendung im DLR vom ersten Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs mit Berichten von Betroffenen. Ein Kontakt, der mir wieder Elan gab, dieses wichtige Thema nochmals anzugehen. Innerhalb von wenigen Wochen fanden wir Protagonistinnen, die alle bereit waren, mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit zu gehen.
Sie wollen mit ihren Erfahrungen wachrütteln und hoffen, dass das Verbrechen des sexuellen Missbrauchs endlich öffentlich bewusst wird – wegen der Kinder, die heute noch immer schutzlos diesen Übergriffen ausgeliefert sind; denn sie wissen aus schmerzvoller eigener Erfahrung, dass die Tiefe der erlittenen Verletzung ein Leben lang bleibt. Ich danke Urte, Johanna und Anne, die den Mut hatten, ihr Schweigen zu brechen und uns ihre Geschichten zu erzählen. Ihre Geschichten machen Mut, dass es möglich ist, das erlittene Leid zu tragen und irgendwann auch ein gutes Leben zu leben – vorausgesetzt man holt sich Hilfe, man bekommt therapeutische Hilfe: „Es ist wichtig zu lernen, den Rucksack so zu packen, dass man ihn tragen kann!“ Ich bin froh, den Film gemacht zu haben. Mich eint mit meinen Protagonistinnen der Wunsch, dass sexuelle Gewalt an Kindern als ein Verbrechen endlich öffentlich wahrgenommen wird – denn Schweigen darüber ist keine Lösung!
Sehenswert!
Definition sexueller Misrauch
Sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.
Diese sozialwissenschaftliche Definition bezieht sich auf alle Minderjährigen. Bei unter 14-Jährigen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie sexuellen Handlungen nicht zustimmen können. Sie sind immer als sexuelle Gewalt zu werten, selbst wenn ein Kind damit einverstanden wäre.
Gesellschaft und Familie
Sexueller Missbrauch kommt in allen Schichten, Familientypen und Religionen in Deutschland vor. Etwa jedes siebte Kind erfährt sexuelle Gewalt. Besonders häufig stammen die Täter und Täterinnen aus der eigenen Familie oder dem familiären oder sozialen Umfeld. Hier wird von 70 – 80 Prozent ausgegangen. Betroffen sind circa zwei Drittel Mädchen, ein Drittel Jungen. Laut einer Studie nimmt die Zahl der minderjährigen Missbrauchsopfer sogar zu. Es kann aber auch sein, dass durch die langsam voranschreitende Enttabuisierung mehr Fälle öffentlich werden. Die Dunkelziffer bei sexuellem Missbrauch ist und bleibt allerdings eine Dunkelziffer. Aufgrund der Thematik, die einher geht mit Manipulation, Schweigen und Geheimhaltung, ist es extrem schwierig zu forschen und fundierte empirische Ergebnisse zu erlangen.
Die zaghaften Versuche von Kindern, auf ihre Situation aufmerksam zu machen, werden meist nicht gehört. Wenn vom Missbrauch betroffene Kinder überhaupt Andeutungen wagen, obwohl sie meist nicht einmal Worte dafür haben, wird ihnen oft nicht geglaubt oder sexueller Missbrauch wird einfach nicht für möglich gehalten. Kinder erhalten oft keine Hilfe oder sie erfahren diese erst sehr spät.
Besonders erschütternd ist es, wenn sich Mütter bei sexuellem Missbrauch in der Familie nicht schützend vor ihre Kinder stellen. Die Gründe für das Wegschauen oder Dulden des Missbrauchs können sehr unterschiedlich sein. Selbst erlebte Gewalt, finanzielle und emotionale Abhängigkeit in der Partnerschaft, aber auch die Angst vor dem Verlust des Partners oder der gesamten Familie können eine Rolle spielen. Auch eigene Missbrauchserfahrungen, eigene Traumatisierungen können dazu beitragen, dass Mütter ihren Kindern nicht beistehen können. Dennoch ist es von großer Wichtigkeit, nicht den Müttern die Verantwortung oder die Schuld für das Leid der Kinder zu geben. Die Verantwortung für sexualisierte Gewalt tragen immer die Männer und Frauen, die sie ausüben! Gelingt es den von sexueller Gewalt betroffenen Menschen irgendwann später im Erwachsenenalter darüber zu sprechen, gehen sie nicht selten das Risiko ein, von der eigenen Familie gemieden oder ausgeschlossen zu werden. Noch immer hat das Aussprechen der Wahrheit oft schlimme Folgen. Es ist, als würde der missbrauchte Mensch Schande über die Familie bringen, und nicht der Täter!
Opfer sexueller Gewalt sind im Erwachsenenalter aufgrund ihrer physischen und psychischen Schwierigkeiten häufiger von Armut betroffen als Menschen, die eine vergleichsweise unversehrte Kindheit verbracht haben. Es besteht in der Gesellschaft kein Bewusstsein darüber, dass und in welchem Ausmaß Missbrauch auch das spätere Berufsleben beeinträchtigen kann. Die Enttabuisierung des Redens über sexuelle Gewalt, sexuellen Missbrauch muss und wird weiter voranschreiten. Gesellschaftliche Vorstellungen von der heilen Familie, insbesondere in sogenannten gehobenen Schichten, in denen es vermeintlich keine Gewalt und schon gar keine sexualisierte Gewalt geben könne, gehören hinterfragt. Die Verantwortung von Eltern und anderen Erwachsenen Personen, die für den Schutz der Kinder vor Gewalt verantwortlich sind, muss hervor gehoben werden.
Sexueller Missbrauch und die Folgen
Sexueller Missbrauch, sexualisierte Gewalt zu erleben, ist für die Psyche der Kinder bewusst oft nicht aushaltbar. Eine Überlebensstrategie des kindlichen Organismus ist häufig die, das Erlebte abzuspalten und zu verdrängen. Das ermöglicht manchen Kindern das Überleben in einer für sie ausweglosen Situation. Dennoch zeigen sich häufig Probleme in der psychischen und körperlichen Entwicklung der Kinder, die sexuellen Missbrauch erlebt haben oder erleben, die zunächst überhaupt nicht mit der sexualisierten Gewalt in Verbindung gebracht werden.
Meistens bekommt die damals als Kind errichtete Mauer jedoch irgendwann Risse. Dann kommen Erinnerungen, Flashbacks – die erlebte sexuelle Gewalt kann oftmals erst im Erwachsenenalter als solche benannt werden. Mitunter kann es viele Jahre oder auch Jahrzehnte dauern, bis sich Erlebtes Bahn bricht. Die Erinnerungen und Bilder an den Missbrauch sind schwer auszuhalten. „Trigger“ wie bestimmte Situationen, Menschen, Gerüche und Geräusche können dann jederzeit die erlebten Situationen ins Bewusstsein rufen, so klar und deutlich, als geschehe alles gerade hier und jetzt. Es gibt aber auch Menschen, die sich nicht an konkrete Situationen erinnern, deren unerträgliche Gefühle, Empfindungen und Reaktionen aber erlebte sexuelle Gewalt sehr wahrscheinlich machen.
Die Folgen und Auswirkungen erlebter sexualisierter Gewalt sind so unterschiedlich wie die Lebenssituationen und Lebenswege der betroffenen Menschen. Jede Bewältigungsstrategie, sei es die Entwicklung einer Essstörung, selbstverletzendes Verhalten, extreme Leistungsorientierung, Konsum von bewusstseinsverändernden Substanzen, ist ein Versuch, eine Möglichkeit, mit dem Erlebten zurecht zu kommen, zu überleben. Für manche von sexueller Gewalt Betroffene bedeutet die Bewältigung des Alltags, jeden Morgen aufzustehen und sich dem Leben zu stellen, einen enormen Kraftaufwand. Jedes Symptom, jede Folge ist eine normale Reaktion, oft Schutzfunktion des Menschen auf eine unnormale, gewaltvolle Erfahrung!
Auch psychische Erkrankungen wie beispielsweise das Borderline-Syndrom oder das Entwickeln von Psychosen können Folgen des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit sein. Nach wie vor gibt es wenig Forschung und wenig Forschungsergebnisse in Bezug auf den Zusammenhang zwischen erlebter sexueller Gewalt und Psychiatrieaufenthalten.
Es ist für viele von sexueller Gewalt Betroffene hilfreich und wichtig, Orte zu finden, an denen es möglich ist, über das Erlebte oder über die Folgen des sexuellen Missbrauchs zu sprechen. Sich dem Erlebten zu stellen, Beratung oder Therapie in Anspruch zu nehmen ist ein mutiger Schritt, der für manche möglich ist, für andere aber auch nicht. Es kann auch entlastend wirken, in einer Gruppe von anderen Betroffenen zu hören, die ähnliches erlebt haben, und so nicht weiterhin mit dem Gefühl, damit allein zu sein oder verrückt zu sein, herumlaufen zu müssen. Mit den Folgen des Missbrauchs haben die Betroffenen nicht selten ein Leben lang zu tun.
Auch wenn es im Kindesalter nicht möglich war, den sexuellen Missbrauch zu benennen oder aufzudecken, ist es hilfreich zur frühen Bewältigung des sexuellen Missbrauchs, wenn es im Leben eines betroffenen Mädchen oder Jungen auch eine sie oder ihn unterstützende Person im nahen Umfeld gegeben hat. Förderung in bestimmten Bereichen, Zuwendung, Verständnis, bedingungslose Zugewandtheit sind Ressourcen im Leben eines Kindes, die sich immer positiv auf die Bewältigung von Problemen, auch im Erwachsenenleben auswirken.
Quelle: ZDF-Mediathek – Infos zum Film
Bilder: ZDF